Dieburg

Der Standort der Synagoge von Dieburg im modernen Orthofoto (Bildmitte)
Basisdaten
Juden belegt seit
1328
Lage
64807 Dieburg, Markt 17
Rabbinat
Darmstadt II
erhalten
nein
Jahr des Verlusts
1986
Art des Verlusts
Abbruch
Gedenktafel vorhanden
ja
Synagogen-Gedenkbuch Hessen
Geschichte
Jüdisches Leben im Spätmittelalter
Nach der Erteilung der Stadtrechte 1277 gelang es dem Erzstift Mainz bis 1310 alle Besitzrechte an Dieburg zu erwerben. Von kurzfristigen Verpfändungen abgesehen, gehörte die Stadt anschließend bis 1803 zum Kurstaat Mainz und war Sitz des gleichnamigen Amtes.
1328 ist mit Heydorn (Heidorn) erstmals ein Jude in Dieburg genannt. 1333 wurden die in Dieburg lebenden Juden zusammen mit denen aus Seligenstadt und Aschaffenburg zu einer gemeinsamen Steuerzahlung verpflichtet. Um 1346/1348 lebten mindestens drei jüdische Familien in der Stadt, nämlich die der „Bürger“ Seckelin, David und Lieberknecht.1 Diese Entwicklung wurde mit der großen Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts unterbrochen, als auch die Dieburger Juden von Pogromgewalt betroffen waren. Spätestens 1369 ließ sich mit Fifelin abermals ein Jude in der Stadt nieder, der ein wichtiger Kreditgeber des Mainzer Erzbischofs war. Zwischen 1371 und 1378 wurden mit Levi, David und Salman drei weitere Juden aufgenommen. 1376 („vicus iudeorum“) und 1451 („platea iudeorum“) ist eine Judengasse in Dieburg erwähnt, die sich im Bereich der Badgasse und Klosterstraße befunden haben könnte, ohne dass die Quellen den Standort eindeutig bestimmen lassen. 1378 kam als „Judenhochmeister“ Rabbiner Isaak von Weida nach Dieburg, dem die jüdische Rechtsprechung im Bereich des gesamten Erzstifts oblag, sofern in den verhandelten Sachen nicht obrigkeitliche Interessen verletzt waren. Gleichwohl dürften die Dieburger Jüdinnen und Juden lediglich eine kleine jüdische Gemeinde gebildet haben, die – 1389 erwähnt – über eine eigene Synagoge („iuden schule“) verfügte, allerdings keinen eigenen Friedhof besaß. Sie war gemeinschaftlich mit ihren Glaubengenossinnen und -genossen in den anderen Städten des Neunstädtebundes – hierzu gehörten noch Aschaffenburg, Seligenstadt, Miltenberg, Amorbach, Külsheim, Bischofsheim, Buchen und Dürn – organisiert.2
Anfang des 15. Jahrhundert lebten vermutlich etwa zehn jüdische Familien in Dieburg. Als „Judenmeister“, also wohl Rabbiner, wird Gumbrecht genannt. Allerdings ließ Erzbischof Konrad II. 1429 Juden des Erzstifts verhaften und ihren Besitz konfiszieren. Sie mussten zur Wiedererlangung ihrer Freiheit und ihres Besitzes 3.000 fl. zahlen. In den Folgejahren wurden erneut Juden in den Schutz nach Dieburg aufgenommen, so 1452 drei Personen. Danach gibt es über mehrere Jahrzehnte keine Hinweise auf die Anwesenheit von Jüdinnen und Juden in der Stadt. Möglicherweise lebten bereits vor der 1470 von Erzbischof Adolf von Mainz verfügten Ausweisung aller Juden keine jüdischen Einwohner mehr in Dieburg. Dass 1514 Juden erlaubt wurde, außerhalb der Judengasse zu wohnen, deutet aber zumindest einzelne Niederlassungen an.3
Wiederansiedlung im 16. Jahrhundert
Mit der Einrichtung des jüdischen Friedhofs in der Mitte des 16. Jahrhunderts zeichnet sich eine erneute Ansiedlung von Jüdinnen und Juden ab, auch wenn sich hierfür bis weit ins 17. Jahrhundert hinein nur wenige Quellenbelege finden. 1566 wird in Dieburg wieder eine Judengasse erwähnt. Ab dem Jahr 1621 nennen die Stadtrechnungen erneut auch eine Synagoge. Beisetzungen und Gerichtsverfahren Dieburger Juden sind in Einzelfällen dokumentiert.4
Im Jahr 1676 lebten in Dieburg die Familien von Moses, Anschel, Mayer, Mäntlen, Heyum und Falck. Ihre Zahl blieb auch in den Folgejahrzehnten etwa konstant. Ihre Haupterwerbsquelle war der Viehhandel.5 Ende des 17. Jahrhunderts lebten regelmäßig fünf bis sechs jüdische Familien in der Stadt und 1802/1803 waren es acht mit 35 Personen. Sie wohnten überwiegend in der westlichen Zuckerstraße, in der Steinstraße und am Markt.6 Organisatorisch waren die Dieburger Jüdinnen und Juden in die Landjudenschaft des Oberstifts eingebunden, deren Takkanot (Statuten) sie unterlagen. 1770 wird Hirsch Dieburg als Steuereinnehmer auf einem Judenlandtag eingesetzt. Offenbar wirkte in dieser Zeit Feist (Feisl) als Parnas (Vorsteher) der Dieburger jüdischen Gemeinde, und dessen Sohn Kalmann (Kalonymus) als Beisitzer im Vorstand der Landjudenschaft. Als Dieburg 1803 an die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt fiel, endete auch die Zuordnung der dortigen Jüdinnen und Juden zur Landjudenschaft des Oberstifts.7
Das 19. und frühe 20. Jahrhundert
Bis 1828 stieg die Anzahl jüdischer Einwohner auf 107 Personen an, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr nur im Viehhandel, sondern auch in zahlreichen anderen Gewerben verdienten. Als Vorsteher wirkten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Isaak Lehmann und Moses Isaak Lehmann, später dann Abraham Lorch, Löb Wolf, Heyum Goldschmidt und Callmann Lehmann. 1856 lebten 144 Jüdinnen und Juden in der Stadt, ehe ihre Zahl um 1880 mit 169 Personen ihren zunächst höchsten Stand erreichte. Als Seligmann Strauß, Herz Strauß und Kaufmann Loeb kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Vorsteher fungierten, zählte die jüdische Gemeinde 42 steuerzahlende Mitglieder und hatte sich dem orthodoxen Rabbinat in Darmstadt zugeordnet.8
Die Dieburger Jüdinnen und Juden partizipierten aktiv am städtischen Leben: So wirkten Louis Lehmann zehn Jahre als Gemeinderat und Abraham Moses Loeb von 1901 bis 1905 als Vorsitzender des Turnvereins. Fünf Dieburger Juden fielen als Soldaten während des Ersten Weltkriegs. Ihre Namen wurden auf dem 1935, also bereits in der Zeit des Nationalsozialismus, eingeweihten Kriegerdenkmal im Fechenbachpark jedoch nicht mit aufgeführt. Den Karneval 1930 feierten jüdische und nichtjüdische Dieburger mit einem gemeinsamen Maskenball.9
Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus
Mit der Machtübernahme begannen auch in Dieburg Repressalien und Misshandlungen, obwohl die NSDAP in dem katholisch geprägten Ort noch bei den Reichstagswahlen im März 1933 mit 23 Prozent der Stimmen deutlich hinter dem Zentrum lag, das 40,5 Prozent auf sich vereinigen konnte. Der NSDAP-Kreis- und Ortsgruppenleiter Franz Burkart wurde zum kommissarischen Bürgermeister ernannt.10 Am 15. April 1933 schlugen SA-Leute Albert Krämer zusammen. Am 24. Oktober 1933 schossen sie mit scharfer Munition in das Schlafzimmer der Familie von Gustav Kurzmann.11 Die Synagoge wurde mit antisemitischen Parolen beschmiert und jüdischen Menschen ab Juni 1936 das Betreten des Stadtparks verboten.12
Die wirtschaftlichen Boykotte und fortgesetzten Diskriminierungen führten dazu, dass bis August 1938 etwa zwei Drittel der jüdischen Einwohner Dieburg verließ. Die Mehrzahl von ihnen ließ sich entweder in anderen Orten des Deutschen Reichs nieder oder emigrierte in die USA. Zu dieser Zeit lebten noch 54 Gemeindemitglieder in der Stadt. Fast alle der verbliebenen Personen wurden in den Jahren 1942 und 1943 deportiert und ermordet. Insgesamt kamen von den im Juni 1933 in Dieburg erfassten 159 Jüdinnen und Juden 41 in der Shoah um.13
Nach der Einnahme Dieburgs durch US-Truppen am 25. März 1945 fanden sich im Keller eines Dieburger Hausschuhmachers rund 250 Thorarollen aus Frankfurt am Main, die als Material zur Schuhherstellung zugeteilt worden waren. Sie wurden zunächst im Turm der Wallfahrtskirche sichergestellt und dann mit drei Lastwagen nach Frankfurt transportiert.14 Das Landgericht Darmstadt verurteilte im November 1946 den ehemaligen SA-Angehörigen Karl Braunwarth wegen der Beteiligung am Pogrom zu eineinhalb Jahren Gefängnis. Ein Mitangeklagter erhielt ein Jahr und vier Monate Gefängnis. Einen Monat später wurde mit Karl Böhle ein weiterer Rädelsführer zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Fünf weitere Angeklagte erhielten jeweils zehn Monate Gefängnis.15
Das DP-Lager nach dem Zweiten Weltkrieg
1945 wurde in Dieburg ein Lager für rund 500 lettische Displaced Persons (DPs) eingerichtet, die in beschlagnahmten Privathäusern am südöstlichen Stadtrand und zwei Sammelunterkünften untergebracht wurden. Nach deren Verlegung nach Darmstadt wurden ab Oktober 1946 jüdische DPs untergebracht, meist Familien mit osteuropäischen Wurzeln, die vorher im unzureichend ausgestatteten DP-Lager in Babenhausen gelebt hatten. Zur Unterbringung der etwa 800 Personen wurden weitere Wohnhäuser in Dieburg sowie im benachbarten Münster konfisziert. Etwa 120 bis 200 DPs waren im Bischöflichen Konvikt am Stadtrand einquartiert, weitere 120 im Schloss Fechenbach.16
Obwohl Dieburg mit seiner überwiegend katholischen Bevölkerung weit weniger für die nationalsozialistischen Parolen anfällig gewesen war, als das evangelische Umland, erzeugte die Unterbringung der jüdischen DPs antisemitische Ressentiments, die auch ein mangelndes Bewusstsein für die historische Verantwortung für die Shoah in der von vielfachen Unsicherheiten geprägten Nachkriegszeit belegen. Besonders zur Jahreswende 1946/1947 kam es zu Übergriffen und zum Einwerfen von Fensterscheiben an den überwiegend von Jüdinnen und Juden bewohnten Häusern. Im August 1949 wurde das DP-Lager aufgelöst, das Anfang 1947 mit 917 Personen seine höchste Belegung erreicht hatte.17
Aus Anlass des 50. Jahrestages der Novemberpogrome wurde 1988 im Fechenbachpark ein Gedenkstein aus Granit mit der Aufschrift „Zum Gedenken an die jüdische Gemeinde Dieburg 1348-1943“ aufgestellt. Zudem wurden 2009 drei Stolpersteine für die Familie Lorch in der Frankfurter Straße 15 auf privatem Grund verlegt und 2016 ein „Gedankenstein“ des Künstlers Martin Konietschke zur Erinnerung an die Deportierten am Landratsamt eingeweiht.
Statistik
- 1429 etwa 10 Familien
- 1676 6 Familien
- 1739 5 Familien
- 1773 4 Familien
- 1796 8 Familien
- 1808 10 Familien
- 1811 14 Familien
- 1829 107 Personen
- 1834 97 Personen
- 1843 88 Personen
- 1846 123 Personen
- 1856 144 Personen
- 1867 147 Personen
- 1880 169 Personen
- 1890 162 Personen
- 1900 160 Personen
- 1914 36 Familien
- 1919 171 Personen
- 1925 175 Personen
- 1931 170 Personen
- 16. Juni 1933 159 Personen
- 1935 119 Personen
- 1937 65 Personen
- 9. August 1938 54 Personen
- Mai 1939 29 Personen
- August 1941 3 Familien mit 16 Personen
- September 1942 14 Personen
- 31. Dezember 1946 858 Personen
- 31. Januar 1947 917 Personen
- 1. Mai 1948 815 Personen
- 1. März 1949 421 Personen
Quellenangabe Statistik
Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 167.
Betsaal / Synagoge
Mittelalterliche Synagoge
Eine „Judenschule“, deren Standort heute nicht mehr bekannt ist, wurde 1389 erstmals genannt. Es wird vermutet, dass sie in der damaligen Judengasse, im Bereich der heutigen Klosterstraße beziehungsweise der Badgasse lag.18
Synagoge im Areal „Weißes Roß“, Zuckerstraße 25
Die Dieburger Stadtrechnungen erwähnen ab 1621 eine „Judenschuel“ im Kontext der „behaußung Zum Weißen Roß“, einem ehemaligen Gasthaus in der heutigen Zuckerstraße 25. Vermutlich war die Synagoge in einem der Nebengebäude auf dem Grundstück eingerichtet. Inwiefern diese auch von auswärtigen Jüdinnen und Juden besucht wurde, ist unklar, jedoch aufgrund der mutmaßlich während des Dreißigjährigen Krieges aus den kleinen Landgemeinden in die Stadt gekommenen jüdischen Kriegsflüchtlinge durchaus wahrscheinlich. 1659 wird die Synagoge erneut in den Stadtrechnungen genannt.19
Synagoge, Zuckerstraße 17
Auch im 18. Jahrhundert nutzte die jüdische Gemeinde einen Betraum, dessen Adresse allerdings nicht bekannt ist. Das ab 1810 geführte Häuserbuch nennt eine „Sinagog“ im Besitz des Metzgers Löb Lorch (Simon Lorch) in der heutigen Zuckerstraße 17. Da sich das Grundstück bereits zuvor im Besitz von dessen Vater Simon Anschel befand, könnte sie auch schon von diesem eingerichtet worden sein. In einem der Nebengebäude befand sich das Schlachthaus mit Stall, „worauf die Sinagog“ stand. Es handelte sich also um einen Betsaal im ersten Stock des Hauses. Offenbar um 1826 ging das Gotteshaus in den Besitz der Dieburger jüdischen Gemeinde über. Nach dem Neubau der Synagoge am Marktplatz wurde das Gebäude abgerissen und an deren Stelle eine Scheune errichtet.20
Die Synagoge von 1869, Markt 17
Angesichts der gestiegenen Zahl an Gemeindemitgliedern sah sich die jüdische Gemeinde veranlasst, eine größere Synagoge einzurichten . Im Frühjahr 1868 erwarb sie von Jakob und Gabriel Hiemenz das Berberich-Schlösschen, ein barockes Adelspalais unter der heutigen Adresse Markt 17. Der Umbau erfolgte nach Plänen des jüdischen Bauaspiranten am Kreisbauamt Heinrich Moritz Callmann. Dabei wurden die alten Umfassungsmauern des Palais, die einen Grundriss von etwa 11 m mal 13 m bildeten, beibehalten. Es entstand ein flachgedeckter Saal von etwa 8 m Breite und 10 m Länge, der sich über zwei Geschosse erstreckte. Ein Gebäudeteil an der Rückseite der Synagoge erschloss die Frauenempore an der Westseite und die Wohnung des Religionslehrers und Vorsängers, die im Dachgeschoss eingerichtet wurde. Der Thoraschrein befand sich an der zum Markt hin gelegenen Ostseite des Gebäudes, weshalb der Zugang für die Männer ebenfalls über die westliche Gebäudeseite erfolgte. Die Nische des Thoraschreins war auch von außen deutlich erkennbar und mit einer Wandnische mit Zehngebote-Tafeln versehen. Flankiert wurde sie von zwei großen Rundbogenfenstern. Über der Thoranische befand sich ein rundes Fenster mit Davidsternmotiv. Durch die Wahl des Rundbogenstils griff der Bau den zeitgenössischen Historismus zwar auf, grenzte sich aber zugleich von den neogotischen Formen im Kirchenbau dieser Jahrzehnte ab.21
Die Einweihung fand am 5. Februar 1869 statt. Mit der zentralen Lage ihrer Synagoge unweit der Einmündung der Zuckerstraße auf den Markt demonstrierte die Gemeinde sowohl ihr Selbstbewusstsein, als auch ihre Emanzipation und Integration. Gefeiert wurde das Ereignis auch mit einem Festball im Gasthaus „Zur Traube“ von Simon Strauß. 1894 beging die jüdische Gemeinde das 25-jährige Jubiläum des Gotteshauses mit einem Festball im „Mainzer Hof“.22
Die neue Synagoge von 1928/1929, Markt 17
Nach fast 60-jähriger Nutzung stellten städtische Behörden im Juni 1926 den schlechten baulichen Zustand der Synagoge fest. Eine Renovierung wurde als unwirtschaftlich verworfen. Unter dem Gemeindevorsitzenden Abraham Loeb richtete die jüdische Gemeinde, die im Vorjahr kurzzeitig mit 175 ihren absoluten Mitgliederhöchststand erreicht hatte, noch im gleichen Jahr einen Wettbewerb zu einem modernen Neubau aus, an dem sich mindestens zwei Architekten – Emanuel Josef Margold aus Österreich und Rudolf Joseph aus Wiesbaden – beteiligten. Die Gemeinde entschied sich für den Entwurf von Joseph, der eine Kuppelsynagoge aus Eisenbeton mit zwei Seitenflügeln vorsah. Aufgrund der veranschlagten Kosten in Höhe von 80.000 RM war dieser so jedoch nicht umsetzbar. In einem neuen Entwurf verzichtete Joseph deshalb auf den Einsatz von Beton. Der Neubau wurde aus Backstein mit Holzbalkendecke und sehr flachem Dach errichtet. Die Neubauarbeiten im Areal hinter der bestehenden Synagoge begannen im Juli 1928 und konnten bereits nach elf Monaten abgeschlossen werden. Anschließend erfolgte der Abbruch des bisherigen Gotteshauses. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 66.088 RM. Die ursprünglich geplanten Seitenflügel zur Straße hin sollten in einem zweiten Bauabschnitt zu einem späteren Zeitpunkt aufgeführt werden, wurden jedoch nie realisiert.23
Die Weihe der neuen Synagoge wurde Anfang Juni 1929 gefeiert: Am 7. Juni wurden die Thorarollen in einem Festumzug vom Haus des Vorstehers Abraham Loeb (Markt 7) zur Synagoge getragen, wo die Schlüsselübergabe erfolgte. Am Folgetag fand der erste Schabbatgottesdienst im Neubau statt und am Sonntag schloss sich eine Feier an, bei der auch der Bürgermeister, der Kreisdirektor, die katholischen und evangelischen Geistlichen sowie weitere Honoratioren zu Wort kamen. Bürgermeister Heinrich Josef Wick betonte dabei, dass die neue Synagoge nicht nur eine Zierde der Stadt sei, sondern auch die Botschaft des konfessionellen Friedens in die Welt hinaussende, den es zu erhalten gelte.24
Der Neubau auf dem inzwischen etwa 1.500 qm großen Areal reichte im Westen bis an die Gersprenz. Die Synagoge bestand aus einem Saal von 8 m Breite, 12,25 m Länge und 8,95 m Höhe. Auf beiden Seiten wurde der Saal von zweigeschossigen Anbauten mit verschiedenen Räumen flankiert: Im nördlichen Anbau war eine moderne Mikwe eingerichtet worden, im südlichen eine Wochentagssynagoge. In den Obergeschossen beider Anbauten waren Frauenemporen mit jeweils drei nach außen ansteigenden Sitzreihen mit 80 beziehungsweise 96 Plätzen angeordnet, die sich zum Betsaal öffneten. Sie waren über die Treppenhäuser an der Ostseite der Anbauten erschlossen, über die auch der Zugang ins Gotteshaus erfolgte. Die männlichen Gottesdienstbesucher, die auch über den an der Westseite befindlichen Pallisch (Vorbau) eintreten konnten, stiegen zunächst auf das 60 cm tiefer liegende Niveau des Betsaals herab, der von je zehn schmalen Glasfenstern an der West- und Ostseite belichtet wurde. Die Bima stand entsprechend orthodoxer Vorstellungen in der Mitte des Saals. Die Thoranische an der Ostseite war in die Wand eingeschnitten und darüber in goldenen Lettern die hebräische Inschrift „Wisse, vor wem Du stehst“ angebracht. Je vier links und rechts des Thoraschreins angeordnete senkrechte Röhrenlampen erinnerten an die Weltkriegsgefallenen der jüdischen Gemeinde. Vor dem Schrein befanden sich das Lesepult und der Ner tamid (Ewiges Licht). Neben einfachen Bänken für die Schuljugend boten aus der Vorgängersynagoge übernommene Subselien etwa 80 Sitzplätze. An der Außenfassade waren an der Ostseite wiederum die Tafeln mit den Zehn Geboten angebracht.25
Die neue Synagoge fand schnell ein Echo auch in der weiteren Region. So veröffentlichte die „Nassauische Heimat“ einen Beitrag, dessen namentlich nicht genannter Verfasser das Gebäude architektonisch auf eine Stufe mit den katholischen Kirchen Sankt Bonifatius und Frauenfriedenskirche in den Frankfurter Stadtteilen Sachsenhausen und Bockenheim sowie der neuen evangelischen Kirche in Bischofsheim stellte. Er hob hervor, dass sich der Architekt eng an die Bedeutung des Wortes von der Synagoge als Andachtsraum gehalten habe: „Hinter dem schlichten Äußeren mit seiner Putzfassade und sparsamen Muschelkalkgliederung, das aber schon von außen klar die Gliederung zeigt – überhöhter Betsaal, vorgesetzter Raum zur Aufbewahrung der Thorarollen, seitlich breite Treppenhausflügel, oben Austritte von der Frauengalerie, unten die beiden Haupteingänge – bildet der Mittelbau im Inneren einen schlichten, feierlich wirkenden Saal. Die Stimmung eines feierlichen Betsaals wird erreicht durch eine – bis zur Balkendecke mit zwischenliegenden Putzfeldern – hochsteigende Sperrholztäfelung, die, ungebeizt, nur durch ihre schöne Maserung wirkt – übrigens eine Arbeit des Wiesbadener Schreinermeisters Feß. Die Fenster sind in antiken, vielfarbigen Gläsern, leicht von außen getupft, verglast, und ein warmes, festliches Licht breitet sich über den Holzflächen aus. Alle Beleuchtungskörper sind als Röhrenlampen aus Altsilber hergestellt. Als Ehrung für die Gefallenen sind entsprechende kleinere Lampen an der Stirnwand angebracht. Das – aus Ersparnisgründen beibehaltene – alte Gestühl ist grau gestrichen und steht gut zu dem braunroten Steinholzfußboden. Als Stoff wirkt nur der blaue Altarvorhang und die Decke mit Silberstickereien. Die Frauenplätze befinden sich, einem alten Brauch folgend, oben auf seitlichen Galerien. Der Raum unter den Galerien ist ausgenutzt durch Garderobenräume, Bad mit Vorraum, das rituellen Vorschriften entspricht, sowie einen Nebenbetsaal für Wochentage. Die vorgesehene Gasheizung ist noch nicht angeschlossen, da die Stadt eben erst mit Gas versehen wird. Auch die Frage der Wasserbeschaffung war in Ermangelung einer Wasserleitung eine recht schwierige. Als Hauptmerkmal des Baues möge betont sein, daß Sachlichkeit und feierliche Schlichtheit – unter Vermeidung jeglichen zeitgebundenen Schmucks – angestrebt ist, ferner daß merkwürdigerweise von Eisen und Beton in den Konstruktionen kein Gebrauch gemacht werden konnte, da die Stadtgemeinde Dieburg in loyalster Weise das gesamte Bauholz aus ihren Waldungen kostenlos beigesteuert und so der Synagogengemeinde einen großen Dienst erwiesen hat.“26
Trotz dieser positiven Darstellung geriet Joseph wegen der Ausführung so in die Kritik, dass er sich veranlasst sah, in der „Starkenburger Povinzial-Zeitung“ eine Rechtfertigung abzudrucken. Dabei betonte er, dass er sich aufgrund der misslichen finanziellen Lage der jüdischen Gemeinde gezwungen gesehen hatte, „ein völlig neues, viel einfacheres Projekt aufzustellen, das auch konstruktiv von ganz anderen Voraussetzungen ausging. Besonders das große Entgegenkommen der Stadtgemeinde Dieburg, 50 Festmeter Holz aus städtischen Waldungen kostenlos zum Bau zuzusteuern, wurde Veranlassung, das ursprünglich als Eisenbetonkuppelbau geplante Synagogengebäude ganz auf heimische Bauweise, Backsteinwände und Holzbalkendecken und Balkendach um zu konstruieren. […] Da es galt, den seitherigen Bau wegen der darin enthaltenen Wohnungen sowie das Bad möglichst lange zu erhalten, wurde der Neubau so dimensioniert, daß er genau zwischen beiden Bauten errichtet werden konnte, ohne diese zunächst abzubrechen. Um das Gebäude in seinen Breiten imposant erscheinen zu lassen, wurde der eigentliche Saalbau mit seiner Schmalseite von 8 Meter Breite in die Mittelachse gelegt und höher als die je 5 Meter breiten seitlich gelagerten Treppenhäuser geführt. Jedoch wurde aus Ersparnisgründen der Fußboden etwa in die Höhe des alten Hofniveaus gelegt, somit 60 Zentimeter tiefer als das vorüberlaufende Straßenniveau, eine Tatsache, die, wie mir wohlbekannt ist, vielfach angefeindet wurde. Aber keiner dieser Gegner stellte die 4000 Mk. zur Verfügung, die die Unterkonstruktion des Fußbodens, die Vergrößerung des Mauerwerks gekostet hätte, und so fühle ich mich entlastet, umso mehr als durch die damals nicht allerseits bekannte, aber bereits festgelegte, gärtnerische Anlage des Vorhofes dieser ‚Mißstand‘ nicht aufgehoben wurde, sondern meinen Wunsch unterstützte, eine breitgelagerte Gebäudegruppe schaffen zu dürfen. […] Formal habe ich versucht, zeitlos und dennoch modern zu bauen. Jedes Ornament ist dem Wechsel der Zeiten unterworfen, darum ließ ich's weg. Ein Bau hängt in seiner Wirkung niemals vom Zierrath, sondern nur von anständigen Proportionen ab. Ob dies gelungen ist, darüber müssen andere urteilen, das ist nicht meine Sache.“27
Bereits 1914 hatte die jüdische Gemeinde die Vorgängersynagoge mit einer Hypothek belasten müssen. Diese Belastung war bis zum Neubau 1928 nicht abgelöst. Um den Bau dennoch realisieren zu können, mussten weitere Darlehen aufgenommen werden, darunter eines in Höhe von 6.000 RM bei der Hessischen Landesbank, für das die bürgerliche Gemeinde Dieburg eine selbstschuldnerische Bürgschaft übernahm. Ab 1932 geriet die jüdische Gemeinde mit ihren Zahlungen in Rückstand, was sich nicht zuletzt durch die nationalsozialistischen Repressalien und wirtschaftlichen Boykotte gegen ihre Mitglieder verstärkte. Im Juli 1937 beantragte die Bezirkssparkasse Groß-Umstadt eine Zwangsversteigerung aus einem Teilbetrag. Am 12. November 1938, nach dem Pogrom, erwarb die bürgerliche Gemeinde die Synagoge für 2.000 RM.28 Bereits 1934 hatte zudem das Dieburger Hochbauamt die Schließung der Baulücke vor der Synagoge gefordert und dabei auf den angeblich fremd und anmaßend wirkenden Anblick des Gebäudes verwiesen. Aus Kostengründen wurden letztlich kanadische Pappeln gepflanzt, die das Gotteshaus fortan verdeckten.29
Die Pogromgewalt in Dieburg brach sich ab dem Abend des 10. November 1938 Bahn: Fast alle noch in der Stadt lebenden jüdischen Familien waren betroffen. Ihre Geschäfte und Wohnungen wurden demoliert und geplündert. Zehn jüdische Männer waren bereits am Nachmittag in „Schutzhaft“ genommen worden. Sie wurden ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo Simon Lorch am 27. November 1938 umkam.30
Zu dieser Zeit bestand die Einrichtung der Synagoge nach Angaben aus Unterlagen zur Entschädigung nach 1945 noch aus 124 Sitzplätzen mit Pulten für die Männer, 80 Sitzplätzen für die Frauen, einer Garderobenvorrichtung mit 200 Einheiten, dem Thoraschrein mit einem mit Edelholz verkleideten Altaraufbau, einem Almemor mit Vorlese- und Wickelpult, einem Vorbeterpult, einem modernen Kronleuchter, vier Hängeleuchtern, zwölf Seitenleuchtern, zwei Leuchtern am Thoraschrein, einem Teppich, 30 Meter Läufern und einem Schrank für Kultgegenstände. Darüber hinaus befanden sich in den Anbauten die Wochentagssynagoge mit 20 weiteren Plätzen, ein Thoraschrank und ein Vorbeterpult, das Frauenbad, eine Abort- und Sanitäranlage sowie weitere Einrichtungen.31
Die Kultgegenstände waren aufgrund des bevorstehenden Zwangsverkaufs der Synagoge wohl zum größten Teil bereits vor dem Pogrom in die Synagoge in der Friedrichstraße in Darmstadt überführt worden, wo sie am 10. November 1938 verbrannten.32 Darunter befanden sich unter anderem acht Thorarollen sowie aus Silber sechs Thorakronen, vier Paar Thoraaufsätze mit Schellen, vier Thoraschilder und ein Lesefinger, außerdem ein Lesefinger aus Holz, acht goldbestickte Thoramäntel, 20 handbemalte Wimpel, drei Thoraschreinvorhänge aus Samt, Deckengarnituren für das Vorleserpult, eine Ewige Lampe aus Messing sowie, jeweils aus Silber, eine Menora, ein Chanukkaleuchter, ein Kidduschbecher, ein Priesterwaschbecken mit Kanne und eine Ethrogbüchse sowie eine Megilla und ein Schofarhorn. Der Wert aller Gegenstände wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf 85.550 DM taxiert.33 Unter den hier aufgelisteten Gegenständen befanden sich auch die Kultgeräte aus den Synagogen in Habitzheim, Langstadt, Lengfeld, Ober-Klingen, Sickenhofen und Urberach.34 Der nichtjüdische Bedienstete der jüdischen Gemeinde, Georg Zilch, soll außerdem auf Anweisung des Vorstehers David Kahn Gebetsbücher und Gebetsmäntel aus der Wochentagssynagoge auf dem jüdischen Friedhof begraben haben.35 Nach Auskunft des örtlichen katholischen Pfarrers Friedrich Georg wurden zudem noch 1938 Kultgegenstände im Zuge von Sachzuteilungen in Dieburg verkauft.36
Während des Pogroms wurde die Inneneinrichtung der Synagoge demoliert, ehe am 12. November der Zwangsverkauf an die Stadt Dieburg abgeschlossen. Anschließend diente das Gebäude kurzzeitig als städtisches Magazin und Werkstätte. Die über den Marktplatz ragende Nische für den Thoraschrein mit den außen sichtbaren Zehn-Gebote-Tafeln wurde 1939 abgebrochen und an ihrer Stelle ein Fenster eingesetzt. Ab März 1940 wurden Räume an den Reichsarbeitsdienst vermietet. Außerdem befanden sich hier während des Krieges eine Kleiderkammer und Werkstätten für französische Kriegsgefangene.37
Der DP-Betraum im Schloss Fechenbach, 1946/1947, Eulengasse 8
Nach der Unterbringung jüdischer Displaced Persons in Dieburg ab Oktober 1946 richteten diese im Schloss Fechenbach temporär einen Betraum ein, zu dem keine weiteren Details bekannt sind.38
Die Wiedereinweihung der Synagoge, Markt 17
Am 1. Dezember 1946 wurde das ehemalige Synagogengebäude auf Anordnung der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und im Frühjahr 1947 für rund 50.000 M renoviert. Am 29. Juli 1947 erfolgte die Wiedereinweihung durch den US-Militärrabbiner William Z. Dalin. Die Thorarollen wurden aus dem bisher genutzten Betraum im Schloss Fechenbach in das Gotteshaus überführt. Etwa 2.000 Personen nahmen an dem anschließenden Gottesdienst teil, darunter James R. Newman, der Gouverneur der US-Militärregierung von Großhessen, Landrat Karl Ritzert, Bürgermeister Ludwig Steinmetz und die Ortsgeistlichen. Das Gebäude wurde bis 1948 als Synagoge genutzt. Ab Dezember 1949 stand das Gebäude seitens der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) zum Verkauf, wurde aber erst am 14. Juni 1951 für 9.600 DM an den Möbelhändler Hans Draut veräußert. Dieser baute unter anderem große Öffnungen in die Fassade ein und den Innenraum um. Zudem wurde im Gartengrundstück hinter der Synagoge ein zweistöckiges Wohnhaus errichtet. 1957 wurde das Gebäude verkauft und zu einem Kino umgebaut. Dabei wurde ein flacher Vorbau ergänzt. Ab Herbst 1964 erfolgte der Umbau zum Supermarkt, wobei die ursprüngliche Architektur weitgehend abgebrochen oder überbaut wurde. Die letzten baulichen Reste wurden 1986 abgerissen und das Grundstück komplett eingeebnet. Darauf wurde bis 1988 ein neues Sparkasse-Gebäude errichtet.39 Heute erinnert eine Bronzetafel an den Standort.
Weitere Einrichtungen
Callmann Lehmann vertrat 1842 die Dieburger Dependance des Vereins zur Verbesserung des Zustands der Israeliten für die Provinz Starkenburg. Auch um den wachsenden antisemitischen Anfeindungen nach dem Ersten Weltkrieg begegnen zu können, wurde 1922 eine Ortsgruppe des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in der Stadt gegründet.40
Mikwe
Ende der 1830er-Jahre befand sich eine Mikwe im Keller des Hauses von Jakob Goldschmidt in der Steinstraße 1/Ecke Zuckerstraße. Diese musste aufgrund der bestehenden hygienischen Verordnungen 1839/1840 geschlossen und zugeschüttet werden.41
1846 kaufte die jüdische Gemeinde ein Hausgrundstück in der heutigen Steinstraße 15. Sie richtete im Wohnhaus die Lehrerwohnung und in einem ehemaligen Stall eine Mikwe ein. 1868 ging das Grundstück durch Verkauf an Joel Fuld über.42
Als die jüdische Gemeinde 1868/1869 die Synagoge am Markt bauen ließ, wurde in einem ehemals als Scheune oder Stall genutzten Nebengebäude im hinteren Teil des Grundstücks eine Regenwassermikwe installiert. Auch in der 1929 eingeweihten Synagoge war im nördlichen Anbau eine moderne Mikwe mit Vorraum und Garderoben eingerichtet worden. Zuletzt wurde das Ritualbad von der Nichtjüdin Anna Zilch betreut.43
Schule
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts besuchten auch die jüdischen Kinder die katholische Konfessionsschule, erhielten jedoch separat jüdischen Religionsunterricht. Ein angestellter Lehrer ist erstmals 1812 erwähnt. 1830 war die Stelle des Vorsängers und Religionslehrers mit Wolf Weil besetzt. Um 1840 sind Joseph Reinheim und ein Lehrer Simon, 1843/1844 dann Levi Michael genannt. Zwischen 1847 und 1879 war Mardocai Kunreuther als Lehrer und Vorsänger angestellt, dessen Religionsunterricht im Gemeindehaus an der Steinstraße15 Mitte der 1870er-Jahre 37 Kinder besuchten. Ab 1882 unterrichtete über viele Jahre David Samuel Kaufmann, der unter anderem die Würzburger Israelitische Lehrerbildungsanstalt absolviert hatte. Auch er war gleichzeitig Vorsänger und Schächter der jüdischen Gemeinde.44
Mit Umzug der Synagoge in die Zuckerstraße wurde auch die Schule dorthin verlegt. Später fand der Religionsunterricht bis mindestens 1929 in einem gemieteten Raum im Gebäude einer Konditorei in der Rheingaustraße 27 statt. Ab 1934 durften die jüdischen Schüler die Höheren Schulen nicht mehr besuchen, sondern mussten jetzt in die jüdische Bezirksschule in Darmstadt gehen.45 Bis 1938 wirkte als letzter Schullehrer, Vorsänger und – dies nur bis zum Verbot im März 1933 – Schächter Joseph Zucker.46
Friedhof
Um 1530 erhielten die beiden Juden Aron und Amschel einen Platz nördlich der Stadt beim „Elenden Creutz“ unweit der Straße nach Münster als Begräbnisplatz angewiesen. Urkundlich wird die Zeit der Einrichtung des Friedhofs im Jahr 1700 mit 1545 bis 1550 angegeben. Die Stadt Dieburg erhob Bestattungsgebühren in Höhe von einem halben Gulden für Dieburger Jüdinnen und Juden sowie Kinder und einem Gulden für ortsfremde Verstorbene.47 Eine erste Ummauerung erfolgte im frühen 18. Jahrhundert, nachdem Gräber beschmutzt worden waren. Die bisherige Einhegung durch Holzpalisaden und Hecken wurden durch eine Steinmauer ersetzt. Eine Inschrift in einem heute zugemauerten Torgewände verweist auf das Jahr 1721 hin. Ältere Hinweise auf Bestattungen finden sich in den städtischen Rechnungsbüchern, die auch den Einzugsbereich des Friedhofs abbilden:48 Die Verstorbenen kamen aus Georgenhausen und Spachbrücken, Groß-Zimmern, Reinheim, Habitzheim, Lengfeld am Otzberg, Groß-Umstadt und Semd sowie Eppertshausen, Messel und Münster. Aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden sich zudem Belege für Bestattungen aus Babenhausen. Die älteste Datierung eines Grabsteins geht auf das Jahr 1712/1713 zurück, lässt sich allerdings namentlich nicht mehr rekonstruieren. Im Oktober 1715 verstarb der Makler Samuel Umstadt, der als Vorsteher der Landjudenschaft fungiert hatte und 1689 über ein beachtliches Vermögen von 12.000 fl. verfügte. Dass sich keine Grabsteine aus der Zeit vor 1712/1713 finden lassen, wird – darauf deuten Höhenunterschiede auf dem Friedhofsgelände hin – daran liegen, dass Teile dieses Geländes für eine Zweitbelegung aufgeschüttet wurden.49
Infolge Anwachsen der jüdischen Bevölkerung des Umlandes wuchs die Zahl der Ortschaften, deren Jüdinnen und Juden auf dem Verbandsfriedhof beigesetzt wurden, zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 22 an. Neben Dieburg setzten hier die jüdischen Gemeinden in Eppertshausen, Georgenhausen, Groß-Bieberau, Groß-Zimmern, Groß-Umstadt, Habitzheim, Lengfeld, Messel, Münster, Ober-Klingen, Ober-Ramstadt, Reinheim, Roßdorf und Gundernhausen und Urberach ihre Toten bei. Hinzu kamen die Verstorbenen aus Klein-Umstadt, Raibach, Semd, Spachbrücken, Ueberau und Zeilhard, in denen keine selbstständigen Gemeinden bestanden.50
Der Friedhof wurde zunächst 1812, 1830, 1880 und zuletzt 1927 erweitert. 1842 und nochmals 1893 kam es zu Schändungen, bei denen mehrere Grabsteine beschädigt wurden. Mit dem Ausbau der Straßenverbindung von Dieburg nach Münster verlegte man den Eingang des Friedhofs von der Südseite an die nordöstliche Seite zur Straße hin und errichtete dort 1853 eine kleine Friedhofshalle, in der auch der Leichenwagen untergestellt war. 1873 wurde in Dieburg eine Beerdigungsbruderschaft für Männer und im Folgejahr auch eine Chewra für die Frauen gegründet.51
Im September 1935 wurden etwa 50 Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof umgeworfen und das hintere Eingangsportal beschädigt.52 Die letzten Beisetzungen in der Zeit des Nationalsozialismus waren die des Kaufmanns Moritz Krämer, der im Dezember 1939 verstorben war, und der Witwe Auguste Wartensleben, die im Oktober 1942 beigesetzt wurde. In Zusammenhang mit dem Pogrom im November 1938 wurden zahlreiche Grabsteine umgestürzt. Die Stadtverwaltung ließ 1942 etwa 300 Steine als Baumaterial abtransportieren. Rund 200 davon wurden als Fußbodenbelag für eine Terrasse des Schlosses Fechenbach verwendet, das zu einem NSDAP-Gemeinschaftshaus umgebaut wurde. 1943 gelangte das Friedhofsareal in die Zuständigkeit des Finanzamts in Dieburg. Inwiefern in der Folgezeit der geplante Verkauf an die Stadt Dieburg zustande kam, ist unbekannt.53
Zwischen 1945 und Ende 1948 fanden noch vier Bestattungen von Verstorbenen aus den umliegenden DP-Lagern statt. Zudem hatten die als US-Soldaten nach Hessen zurückgekehrten ehemaligen Dieburger Juden Herbert Hain und Siegbert Lorch dafür Sorge getragen, dass elf ehemalige Nationalsozialisten auf Anordnung der Stadtverwaltung den Friedhof wiederherstellen mussten. 1947 verfügten Militärregierung und Landrat den Ausbau der in der Zeit des Nationalsozialismus im Schloss Fechenbach verbauten Grabsteine. Sie wurden zunächst zur Synagoge gebracht und dort am 8. Januar 1948 durch den orthodoxen Frankfurter Rabbiner Uri Bluth neu geweiht. Anschließend wurden sie in einer von etwa 560 jüdischen DPs begleiteten Prozession zum jüdischen Friedhof gebracht und dort an der östlichen Mauer aufgestellt, weil man ihre ursprünglichen Standorte nicht mehr feststellen konnte. Einige Steine mit nicht mehr lesbaren Inschriften wurden zu einer Pyramide zusammengestellt.54
1955,1976 und 1982 kam es abermals zu Schändungen des jüdischen Friedhofs. Wenig später ließ die Stadt Dieburg, der die Pflege des Areals oblag, mit Genehmigung des Landesrabbiners alle nicht mehr standfesten Steine, immerhin rund 300, mit der Hauptinschrift nach oben auf die Gräber legen. Nach Kritik zahlreicher Shoah-Überlebender kam es ab 1990 zu umfassenden Sanierungen, bei denen auch Grabsteine gereinigt und neu aufgestellt wurden.55
Der Friedhof, der unter der Adresse Am Bauhof 4c firmiert, umfasst heute eine Fläche von 10.830 qm. Neben 978 beschrifteten Grabsteinen liegen noch etwa 100 unbeschriftet oder als Fragment vor.
Nachweise
Fußnoten
- Möglicherweise waren auch Gumpert und Bela von Dieburg in der Stadt niedergelassen. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 139. ↑
- Braasch-Schwersmann, 2005, Hessischer Städteatlas, S. 18-19; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 139. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof Dieburg, S. 3; Braasch-Schwersmann, 2005, Hessischer Städteatlas, S. 18-19; SGB, S. 139 ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 141-142 ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 142. ↑
- Keim, 1993, Beiträge, S. 17 ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 143-144. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 145-146. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 147, 157. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 157. ↑
- Keim, 1993, Beiträge, S. 228 ↑
- Zu weiteren antisemitischen Maßnahmen vgl. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 157-158. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 158. ↑
- HHStAW, 503, Nr. 7382. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 161, 163. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 161-162. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 162-163. ↑
- Keim, 1993, Beiträge, S. 145; Braasch-Schwersmann, 2005, Hessischer Städteatlas, S. 18. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 141-142. ↑
- Schmidt, 1977, Israelitische Gemeinde, S. 316; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 143-144. ↑
- Eine ausführliche Baubeschreibung bieten Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 148-150. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 146, 150. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 150-151, 153 ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 152. ↑
- Ausführliche Baubeschreibung bei Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 153-157. ↑
- o. A., 1929, Dieburg, S. 72. ↑
- Zitiert nach Keim, 1993, Beiträge, S. 159-160. ↑
- Keim, 1993, Beiträge, S. 175. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 158. ↑
- Ausführlicher zum Ablauf des Pogroms vgl. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 158-159. ↑
- HHStAW, 518, Nr. 1409. ↑
- HHStAW, 518, Nr. 1409; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 159. ↑
- HHStAW, 518, Nr. 1403. ↑
- HHStAW, 518, Nr. 1409. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 159. ↑
- HHStAW, 503, Nr. 7382. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 159. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 161. ↑
- Kohlmannslehner/Lange, 1998, Erde, S. 43-44; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 162-163. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 145, 147. ↑
- Keim, 1993, Beiträge, S. 145; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 144-145. Keim irrte mit der Jahreszahl „1848“. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 145. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 148, 153, 157. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 145-147. ↑
- Keim, 1993, Beiträge, S. 203. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 157. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 141. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof Dieburg, S. 11. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof Dieburg, S. 12; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 141. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof Dieburg, S. 13. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 145-146. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 158. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof Dieburg, S. 14; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 161. ↑
- Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 161-163. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof Dieburg, S. 14; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Dieburg, S. 164 ↑
Weblinks
Quellen
- Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW):
- HHStAW, 503, Nr. 7382: Entschädigungsansprüche der jüdischen Gemeinden im Regierungsbezirk Darmstadt. Bd. 5: Synagogen und andere jüdische Einrichtungen im Kreis Dieburg und im Kreis Erbach, (1932-1939) 1960-1966.
- HHStAW, 518, Nr.1409: Entschädigungsakte Jüdische Gemeinde Dieburg, 1960-1962.
- HHStAW, 518, Nr. 1403: Entschädigungsakte Jüdische Gemeinde Darmstadt, Synagoge Friedrichstraße, 1954-1962.
Literatur
- Alicke, Klaus-Dieter, Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Gütersloh 2008.
- Altaras, Thea, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, 2. Aufl., Königstein im Taunus 2007, S. 280-281.
- Arnsberg, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang. Untergang. Neubeginn, Bd. 1, Frankfurt am Main 1971, S. 134-137.
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- Braasch-Schwersmann, Ursula (Hg.), Hessischer Städteatlas, I,4 Dieburg. Textheft, Marburg 2005.
- Cobabus, Norbert, Der Jüdische Friedhof in Dieburg. Eine Anleitung für Führungen über den Friedhof unter besonderer Berücksichtigung der früheren jüdischen Gemeinden in Urberach und Ober-Roden, 2., erg. Aufl., Rödermark 2012.
- Franz, Eckhart G./Wiesner, Christa, Der jüdische Friedhof in Dieburg, Wiesbaden 2009.
- Hoffarth, Florian/Rodee-Reith, Monika, Zeugen der Vergangenheit. „... sich dem System nicht beugen, solange noch so ein Terror ausgeübt werde“, Dieburg 2011.
- Keim, Günter, Beiträge zur Geschichte der Juden in Dieburg, Dieburg 1993.
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- Lange, Thomas (Hg.), L´chajim. Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, Reinheim 1997.
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- Schmidt, Georg, Die Israelitische Gemeinde, in: Magistrat der Stadt Dieburg (Hg.), Dieburg. Beiträge zur Geschichte der Stadt, Dieburg 1977, S. 315-318.
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