Ober-Klingen

Bearbeitet von Wolfgang Fritzsche, überarbeitet von Daniel Ristau  
Topografische Karten
KDR 100, TK25 1900 ff.
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Basisdaten

Juden belegt seit

1721

Lage

64853 Otzberg, Ortsteil Ober-Klingen, Wilhelm-Leuschner-Straße 47

erhalten

nein

Jahr des Verlusts

1978

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

nein

Synagogen-Gedenkbuch Hessen

Geschichte

Wie das benachbarte Lengfeld gehörte auch Ober-Klingen in der Frühen Neuzeit zur Kurpfalz. In einer Schatzungsliste aus dem Jahr 1721 wird eine jüdische Familie im Ort erwähnt, wobei nicht genau geklärt ist, ob Liebmann (Löw) aus „Klingen“ in Ober- oder Nieder-Klingen lebte.1 Er starb 1731 und war seinem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Dieburg zufolge in der Thora bewandert. Kurzzeitig wohnte in den 1720er-Jahren Feist David Oppenheimer aus Mannheim in Ober-Klingen, der unter anderem den Grafen von Erbach-Schönberg 5.000 fl. lieh, die erst Jahrzehnte später an dessen hinterbliebener Tochter Elkele und deren Ehemann Moses Rothschild in Mannheim endgültig zurückgezahlt wurden.2 1742 lebten im gesamten Amt Otzberg 14 Schutzjuden. Steuerlisten aus dem Folgejahr nennen allerdings nur noch Lengfeld, Hering und Heubach als deren Wohnorte. Allerdings wurde 1751 erneut ein namentlich nicht bekannter Jude aus „Klinge“ auf dem jüdischen Friedhof in Dieburg beigesetzt. 1759/1760 und 1768/1769 wurden in Ober-Klingen Löw und Jesel (Joseph) Wolf als Söhne von Wolf (Benjamin) Löw geboren. Gleichwohl lebten weiterhin nur wenige Jüdinnen und Juden im Ort.3 Um 1800 war der Rabbiner in Mannheim für die Ober-Klinger Jüdinnen und Juden zuständig, dann aufgrund der einjährigen Verwaltung des Ortes durch die Herren von Löwenstein-Wertheim 1805/1806 der Wertheimer Rabbiner. 1806 fiel Ober-Klingen endgültig an das Großherzogtum Hessen, wodurch wenig später das Rabbinat in Darmstadt für die religiösen Belange der jüdischen Dorfbewohner zuständig wurde. Zu dieser Zeit trat Aron Wolf als Vertreter der Judenschaft auf.4

Ab 1800 stieg die Zahl der jüdischen Einwohner deutlich an. Ende der 1820er-Jahre lebten 38 Jüdinnen und Juden unter den 615 Ortsbewohnern in Ober-Klingen.5 Zu ihnen gehörten die Familien von Löw, Isaak und Jesel Wolf sowie die Familie Neu. Sie waren vor allem im Handel mit Vieh und Viehfutter tätig. 1838 amtierte jeweils ein Mitglied der Familien Wolf und Neu als Vorsteher der kleinen jüdischen Gemeinde. Das entsprach der behördlichen Anforderung von drei Vorstehern nicht und führte schließlich 1845 dazu, dass der Landrat selbst die höchstbesteuerten Gemeindemitglieder Löser (Lazarus) Wolf, Isaak Wolf und Lazarus Neu für das Amt vorschlug.6 1905 ist Löb Neu als Vorsteher genannt, der auch als Thoravorleser in der Synagoge tätig war und damit die Abhaltung von Gottesdiensten unterstützte. 1911 hatten Wolf Wolf (II) und Aron Wolf das Amt inne, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, 1913, dann Julius Wolf sowie erneut Löb Neu und Aron Wolf.7

1878 erreichte die Zahl der jüdischen Einwohner in Ober-Klingen mit 70 ihren höchsten Stand, ging danach aber auch wegen der Auswanderung vieler jüdischer Familien nach Nordamerika deutlich zurück.8 Um 1905 lebten nur noch 44 Jüdinnen und Juden in Ober-Klingen. Die jüdische Gemeinde hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts dem orthodoxen Rabbinat Darmstadt II zugeordnet.9

Nur wenig ist über die Verfolgung der 1933 noch 26 Jüdinnen und Juden in Ober-Klingen bekannt. Die Leitung der jüdischen Gemeinde hatte zu diesem Zeitpunkt Willy Wolf inne. 1938 lebten noch zwölf Jüdinnen und Juden im Ort. Zu dem im selben Jahr organisierten Pogrom im November liegen kaum Informationen vor. Übergriffe auf das Eigentum der jüdischen Familien sind anzunehmen. Sechs jüdische Männer: Isaak Neu, Adolf Wolf, Willy Wolf, Leopold Wolf, Abraham Neu und Emil Wolf, waren in „Schutzhaft“ genommen und am 11. November ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden. Während die älteren Männer im Dezember wieder entlassen wurden, mussten die jüngeren darauf bis zum Januar 1939 warten.10

Die meisten Jüdinnen und Juden verließen den Ort in den Folgemonaten. 1941 lebten nur noch drei Verfolgte in Ober-Klingen: Elsa Wolf, deren Spur sich 1942 im Ghetto Piaski verliert, sowie Samuel Wolf und Klothilde Neu, die im Juni 1942 ins jüdische Altersheim nach Mainz und von dort im September des Jahres ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurden, wo sie 1943 umkamen. Mindestens 29 der in Ober-Klingen geborenen oder dort 1933 wohnhaften Jüdinnen und Juden überlebten die Shoah nicht.11

Seit 1988 befindet sich an der Otzbergschule in Lengfeld (Am Schafbuckel 29) ein Mahnmal des Künstlers Otmar Lange, das auch auf die verfolgten Ober-Klinger Jüdinnen und Juden verweist.

Statistik

  • 1722 1 Person (vermutlich plus Haushalt)
  • 1742 14 Personen in „Otzberg“
  • 1805 3 Schutzjuden
  • 1829 38 Personen
  • 1830 12 Steuerzahler
  • 1837 9 Hausväter und 1 Witwe
  • 1855 57 Personen
  • 1861 62 Personen
  • 1867 51 Personen
  • 1877 68 Personen
  • 1900 44 Personen
  • 1924 28 Personen
  • 1933 26 Personen
  • 1935 23 Personen
  • Mai 1939 12 Personen
  • Februar 1942 9 Personen
  • September 1942 0 Personen

Quellenangabe Statistik

Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 348.

Betsaal / Synagoge

Nachdem in Ober-Klingen offenbar ein Minjan zustande kam, richtete Jesel (Benjamin) Wolf einen Betraum in seinem Haus in der heutigen Wilhelm-Leuschner-Straße 47 ein. Das Grundstück war ursprünglich Bestandteil des Breuelberger Erbleihgutes, das nach dem Dreißigjährigen Krieg von den Grafen von Erbach verwaltet wurde. Wolf ließ über seinem im Hof gelegenen Pferdestall einen Fachwerkbau errichten, in dem die Synagoge etabliert wurde. Im Brandkataster von 1808 ist sie erstmals genannt. Von dem an der Straße gelegenen Wohnhaus bewohnte Wolf nur die rechte Haushälfte. Die andere war im Besitz einer nichtjüdischen Familie. Wolfs Sohn Isaak Wolf löste 1836 die Erbleihe ab. Fortan befand sich das Gebäude im Privatbesitz der Familie, gelangte aber schließlich in den Besitz der jüdischen Gemeinde.12

Das Synagogengebäude mit einer Grundfläche von 61 qm war 7,60 m breit und 8 m lang. Es war mit einem Satteldach gedeckt. Der Zugang erfolgte wohl über die südliche Tür vom Hof des Nachbargrundstücks (heutige Hausnummer 45) aus. Eine Holztreppe führte ins Obergeschoss, das höher ausgeführt war, als ein normales Wohngeschoss. Das Gewölbe des Saals sei blau ausgemalt und mit goldenen Sternen versehen gewesen. Auch die Wände waren mit Motiven ausgemalt, die einen Bezug zum "gelobten Land" herstellen sollten, darunter der Ölberg, Dattelpalmen, weitere Pflanzen und ein Esel. Belichtet wurde der Raum durch farbige Bleiglasfenster. Ob die Ausmalung erst im Rahmen der größeren Reparatur der Synagoge im Jahr 1872 erfolgte, ist nicht bekannt. Der Thoraschrein war wohl quer zum First an der Ostseite eingebaut, was den halachischen Vorgaben entsprach. Außerdem gab es eine freistehende Bima (Vorlesepult). Ob es für die Frauen eine eigene Empore gab oder diese auf gleicher Ebene wie die Männer am Gottesdienst teilnahmen, ist nicht bekannt. Eine abgegrenzte „Frauenschule“ ist in der Synagogenordnung von 1830 allerdings ausdrücklich erwähnt. Die Tatsache, dass eine eigene Synagogenordnung erlassen wurde, weist auf vorhergehende Konflikte in Bezug auf den Gottesdienst hin. Dazu gehörte offenbar auch die Herausforderung, ausreichend Männer zu Abhaltung des Morgen- und Abendgebets in der Synagoge zu versammeln.13

Problematisch blieb, dass das Erdgeschoss des Synagogengebäudes auch weiterhin als Stall genutzt wurde. 1837 klagte der Vorsteher der jüdischen Gemeinde gegenüber dem Landrat über die daraus resultierenden üblen Gerüche. Man hoffte, das Untergeschoss zukünftig als Schulzimmer für die Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts herrichten zu können. Die Besitzerin des Stalls, die verwitwete Elkele Wolf, verweigerte zwar dessen Verkauf, bot der jüdischen Gemeinde aber den Erwerb der gesamten Hofreite an. Hierzu fehlten jedoch die finanziellen Mittel. Vorsteher Jösel Neu bemühte sich daraufhin um Nutzungsuntersagung, da der Gottesdienst gestört und verächtlich behandelt werde.14 Ob sich dieses Problem erst mit dem später erfolgten Erwerb des Gebäudes durch die jüdische Gemeinde oder bereits früher löste, ist nicht bekannt.

Der Rückgang der Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde hatte zur Folge, dass Gottesdienste nicht mehr täglich stattfinden konnten. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie nur noch an Schabbat und den jüdischen Feiertagen abgehalten15 Bis Mitte der 1920er-Jahre sank die Zahl der jüdischen Ortseinwohner auf 25.

Im Zuge des Pogroms vom Herbst 1938 sollte auch die Synagoge in Ober-Klingen angegriffen werden. Organisiert durch den Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Georg Rauch, der Anweisungen bei der NSDAP-Kreisleitung in Erbach eingeholt hatte, machte sich wohl in der Nacht vom 10. auf den 11. November ein Mob auf den Weg in Richtung Synagoge. Es soll dem im Nachbargrundstück wohnenden Heinrich Kübler jedoch gelungen sein, mit einer Axt in der Hand die Gruppe zu überreden, von ihrem Vorhaben abzusehen. Kübler erwarb das Gebäude 1939 für 200 RM. Den Kaufvertrag unterzeichneten in Dieburg seitens der jüdischen Gemeinde Willy Wolf, Samuel Wolf und Adolf Wolf.16 Der Verbleib der Kultgegenstände ist nicht abschließend geklärt. Möglicherweise hatte die Verwaltung der politischen Gemeinde diese im Kontext des Pogroms beschlagnahmt und die Thorarollen der Gestapo Darmstadt übergeben.17 Akten der jüdischen Gemeinde Dieburg enthalten dagegen den Hinweis, sie seien in die dortige Synagoge gebracht worden, gingen dort allerdings verloren oder wurden zerstört.18 Nach nochmals anderen Angaben seien sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in die Darmstädter Synagoge in der Bleichstraße transportiert und dort vermutlich während des Pogroms zerstört worden.19

Heinrich Kübler baute das Synagogengebäude zu landwirtschaftlichen Zwecken um. 1978 erfolgte der Abriss des Synagogengeschosses, später dann auch der des ehemaligen Stalls. Forderungen der Denkmalschutzbehörden auf Erhalt wurden übergangen. Auch das Vorderhaus und Nebengebäude (Wilhelm-Leuschner-Straße 51 und 53) wurden in der Folgezeit abgerissen und dort ein Wohnhausneubau errichtet.20

Weitere Einrichtungen

In der Hofreite des 1802 in Ober-Klingen geborenen Löser (Lazarus) Wolf war in einem Anbau eine Laubhütte eingerichtet.21

Schule

Zum jüdischen Religionsunterricht in Ober-Klingen liegen nur wenige Hinweise vor. Offenbar war nur zeitweise ein eigener Lehrer angestellt. Mitte der 1870er-Jahre soll die jüdische Gemeinde über einen eigenen Unterrichtsraum für die zu dieser Zeit neun jüdischen Schulkinder verfügt haben.22 Ab Ende des 19. Jahrhunderts erteilte den Religionsunterricht der Lehrer A. Oppenheimer in Lengfeld.23 Um 1910 hatte Lehrer Bravmann aus Lengfeld diese Aufgabe für die neun Ober-Klinger Schulkinder zu übernehmen und kurz vor dem Ersten Weltkrieg unterrichtete Hermann Kahn aus Höchst im Odenwald, der 1924 auch mit dem Schächten betraut war.24

1935 wurde in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung eine jüdische Bezirksschule in Höchst im Odenwald gegründet, die die wenigen jüdischen Schulkinder aus Ober-Klingen fortan besuchten.25

Friedhof

Die Verstorbenen wurden seit dem 18. Jahrhundert auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Dieburg bestattet.

Nachweise

Fußnoten

  1. Franz/Wiesner, 2009, Friedhof, S. 70.
  2. HStAD R 21 J, Nr. 1069; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 341.
  3. Franz/Wiesner, 2009, Friedhof, S. 70; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 341-342.
  4. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 342.
  5. Wagner, 1829, Beschreibung, S. 172
  6. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 344.
  7. Statistisches Jahrbuch deutscher Juden, Jg. 17, 1905, S. 107; Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege, 20. Jg., 1911, S. 166; 21. Jg., 1913, S. 187; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 345.
  8. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 344.
  9. Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes, Jg. 14, 1899, Nachtrag, S. 54.
  10. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 346.
  11. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 346-347.
  12. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 342, 349; Altaras, 2007, Synagogen, S. 290; Engelbert, 1875, Statistik, S. 53.
  13. Altaras, 2007, Synagogen, S. 290; Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 342-343.
  14. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 343-344.
  15. Ruppin, 1909, Juden, S. 83.
  16. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 345-346.
  17. Altaras, 2007, Synagogen, S. 290.
  18. HHStAW, 518, Nr. 1409.
  19. HHStAW, 518, Nr. 1402.
  20. Blum/Berger-Dittscheid, 2025, Ober-Klingen, S. 345.

Weblinks

Quellen

Literatur

Abbildung vorhanden

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Rechtehinweise

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Zitierweise

Empfohlene Zitierweise

„Ober-Klingen“, in: Synagogen in Hessen <https://lagis.hessen.de/de/orte/synagogen-in-hessen/alle-eintraege/170_ober-klingen> (aufgerufen am 26.11.2025)

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