Blausäure-Attentat auf den Kasseler Oberbürgermeister Philipp Scheidemann
Ereignis
Was geschah
Der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Kassel und ehemalige Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann (1865–1939) entgeht in Kassel (Stadtteil Wilhelmshöhe) leicht verletzt einem Blausäure-Attentat von Angehörigen der rechtsradikalen Terrorgruppe „Organisation Consul“. Die Attentäter werden später zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Die „Organisation Consul“ (O.C.), eine aus dem im Februar 1919 in Wilhelmshaven von Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt (1881–1971) aufgestellten Freikorps „Marine-Brigade Ehrhardt“ hervorgegangene Geheimorganisation, deren konspirative Aufstellung nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 erfolgte, ist Zentrum eines Netzwerks von weiteren paramilitärischen Vereinigungen. Die Mitglieder der O.C. rekrutieren sich zum überwiegenden Teil aus Offizieren der ehemaligen Reichswehr und der nach Kriegsende entstandenen Freikorpsverbände. Organisatorisch folgt die Geheimorganisation einem nach militärischen Gesichtspunkten gegliederten Kaderaufbau. Ansässig in München und nach außen hin als Holzhandelsgesellschaft getarnt, verfügt die O.C. reichsweit über eine beträchtliche Anzahl von Verbindungsleuten. Schätzungsweise greift die O.C. auf ein Mitgliederreservoir von rund 5.000 Personen zurück. Öffentliche Bekanntheit erlangt das extrem nationalistische und gegen die demokratische Weimarer Verfassung agierende Geheimbündnis durch gezielte, politisch motivierte Mordanschläge auf Repräsentanten der republikanischen Regierung. Als gesichert gilt ihre Verantwortung für die Morde an Matthias Erzberger (26. August 1921; 1919 bis 1920 amtierender Reichsfinanzminister), an Walther Rathenau (24. Juni 1922; Reichsaußenminister seit Januar 1922) sowie für den Anschlag auf Philipp Scheidemann.
Eine bedeutende Rolle spielt die O.C. in Zusammenhang mit dem Aufbau der ersten SA-Verbände der NSDAP. Ein zwischen Hermann Ehrhardt, Ernst Röhm und Hitler getroffenes Kartellabkommen, dass Vorbild für den Aufbau von SA-Verbänden im ganzen Reich wird, sieht vor, das Ehrhardt hoch dekorierte Weltkriegsoffiziere aus dem Kader der O.C. zum Aufbau der Sturmabteilungen abkommandiert. Die politische Schulung der Mitglieder dieser Brigaden obliegt der NSDAP, wobei vereinbart wird, das die von Ehrhardt abkommandierten Kämpfer entweder in die vor Ort existierenden Parteiverbände eintreten oder aber sich selbst an der Neugründung von Ortsverbänden der Nazipartei beteiligen (so zum Beispiel in Frankfurt am Main, wo am 26. Mai 1922 die Gründungsversammlung der ersten hessischen NSDAP-Ortsgruppe stattfand).
(OV/KU)
Bezugsrahmen
Nachweise
Literatur
- Peter-Christian Witt, Blausäure – das Attentat auf Philipp Scheidemann, in: Martin Maria Schwarz/Ulrich Sonnenschein (Hrsg.), Hessen kriminell – Orte des Verbrechens in Hessen, Marburg 1999, S. 107-110
- Chronik deutscher Zeitgeschichte 1, S. 171
- Gotthard Jasper, Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 10, 1962, Heft 4, S. 430-453, Dokument Nr. 1, S. 439-440,
Weiterführende Informationen
- „Ein Anschlag auf Scheidemann“, Frankfurter Zeitung Nr. 414 vom 6.6.1922, Morgenblatt (eingesehen am 16.5.2025)
- „Scheidemanns Schilderung des auf ihn verübten Attentates“, Gießener Anzeiger Nr. 131 vom 7.6.1922, Zweites Blatt (eingesehen am 16.5.2025)
- Politische Agitation gegen Scheidemann, Frankfurter Zeitung Nr. 415 vom 6.6.1922, Abendblatt (eingesehen am 16.5.2025)
- Reaktionen der Presse auf den Anschlag auf Scheidemann, Frankfurter Zeitung Nr. 417 vom 7.6.1922, Zweites Morgenblatt (eingesehen am 16.5.2025)
- Reaktionen auf das Attentat auf Scheidemann, Fuldaer Zeitung Nr. 130 vom 8.6.1922 (eingesehen am 16.5.2025)
- „Die Aufklärung des Anschlags auf Scheidemann“, Gießener Anzeiger Nr. 189 vom 14.8.1922 (eingesehen am 16.5.2025)
- Auszug aus der Anklageschrift des Oberreichsanwalts gegen Hans Hustert und Karl Oehlschläger, Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, N Fehrenbach Nr. 125, 1, Anklageschrift gegen Hans Hustert und Karl Oehlschläger wegen eines versuchten Anschlags auf Philipp Scheidemann (eingesehen am 19.5.2025)
- „Die Geheimorganisation Consul“, Frankfurter Zeitung Nr. 479 vom 30.6.1922, Erstes Morgenblatt (eingesehen am 21.5.2025)
- Martin Sabrow, Organisation Consul (O.C.), 1920–1922, in: Historisches Lexikon Bayerns (eingesehen am 4.6.2020)
- Wikipedia: Philipp Scheidemann (eingesehen am 4.6.2022)
- Wikipedia: Organisation Consul (Stand: 2.7.2012)
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„Blausäure-Attentat auf den Kasseler Oberbürgermeister Philipp Scheidemann, 4. Juni 1922“, in: Hessen im 19. und 20. Jahrhundert <https://lagis.hessen.de/de/quellen-und-materialien/hessen-im-19-und-20-jahrhundert/alle-eintraege/557_blausaeure-attentat-auf-den-kasseler-oberbuergermeister-philipp-scheidemann_blausaeure-attentat-auf-den-kasseler-oberbuergermeister-philipp-scheidemann> (aufgerufen am 26.11.2025)
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