Proteste bei Erstaufführung von Georg Büchners „Leonce und Lena“ in Darmstadt
Ereignis
Was geschah
Die Erstaufführung von Georg Büchners Komödie „Leonce und Lena“ in Darmstadt durch das Hessische Landestheater unter der Leitung von Theaterintendant Gustav Hartung (1887–1946) löst unter anderem wegen der Darstellung des Hofpredigers als katholischer Bischof Proteste aus.
Das Stück, an der Oberfläche ein Lustspiel, doch darunter voll beißender Kritik an der provinziellen Kleinstaaterei zur Zeit des Deutschen Bundes, wird bei der Premiere von einem Teil des Publikums ausgepfiffen. Das konservative „Darmstädter Tagblatt“ und die rechtsextrem orientierte „Hessische Landeszeitung“ machen die Aufführung wegen der Angriffe auf Königtum und Kirche zum Gegenstand einer Kampagne. Die katholische Zentrumspartei und die Deutsche Volkspartei schließen sich diesen Protesten an und richten zwei Beschwerden an den Hessischen Landtag, der sich am 4. Mai 1923 in einer Debatte mit dieser Sache befasst.
Die Fürstensatire stößt bei ihrer Premiere in dem bis 1918 durch den Großherzog finanzierten Theater nach Darstellung der Presse beim Publikum als Inszenierung „konzentrierten Blödsinns“ eines „neumodischen Autors“ auf Ablehnung. Das „Darmstädter Tagblatt“ beteiligt sich an der Debatte mit dem Vorwurf, Hartung habe ein „Kunstinstitut“ in ein „Instrument politischer Propaganda“ verwandelt. Dies sei, so sieht es die Zeitung vor dem Hintergrund der inneren und äußeren politischen Lage Deutschlands, die von der Bürde des Versailler Vertrags und der von reaktionären Kräften abgelehnten demokratischen Regierung der Republik von Weimar bestimmt wird, ein „Verbrechen an der hehren Aufgabe der Kunst, Verbrechen an unserm Volk“. Und weiter: „Jede Kunst kann nur national sein. […] So kann auch ein Kunstwerk, hier das Drama und die Oper, im tiefsten Kern nur von dem Volk erfasst und verstanden werden, aus dessen Geist heraus das Werk geschaffen wurde.“1 Angesichts der Mitte Januar 1923 erfolgten Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen sieht man in der expressionistischen Inszenierung des Büchner-Werkes vor allem eine Form der ‚Nestbeschmutzung‘. Das Theater solle gefälligst die Widerstandskraft des deutschen Volkes stützen („Die Franzosen stehen im Ruhrgebiet und wir lassen uns hier Derartiges bieten“).2
Unter der Leitung Hartungs hatte zuvor bereits die Uraufführung von Kasimir Edschmids (1890–1966) Schauspiel „Kean“ am 25. Mai 1921 für einen ähnlichen Skandal gesorgt, der von einer politisch motivierten Kampagne gegen die Aufführungspraxis des Hessischen Landestheaters getragen wurde. Obwohl Gustav Hartung von der überregionalen Theaterkritik als ein „Regisseur der Energie“ der „in das Werk hineinsteigt und aus Fläche Plastik macht“ gefeiert wird3, kapituliert der Theaterleiter angesichts der anhaltenden öffentlichen Kritik und zahlreicher verdeckter Angriffe. Obwohl vom Kultusministerium für drei weitere Jahre auf seinem Posten als Intendant des Landestheaters verpflichtet, kündigt er im Herbst 1923 seinen Vertrag und verlässt Darmstadt im Sommer 1924.
(OV/KU)
Bezugsrahmen
Nachweise
Fußnoten
- Zitiert nach Hannes Heer, Darmstädter Expressionismus. Gustav Hartung oder die Verteidigung der Republik mit den Mitteln des Theaters, S. 153. ↑
- Vgl. Erich Zimmermann, Als Darmstadt auf Georg Büchner pfiff. Ein Theaterskandal um „Leonce und Lena“, in: Darmstädter Echo, 25.6.1981, S. 21; Hermann Kaiser, Modernes Theater in Darmstadt 1910–1933. Darmstadt 1955, S. 84 f. ↑
- Vgl. Hannes Heer, Darmstädter Expressionismus. Gustav Hartung oder die Verteidigung der Republik mit den Mitteln des Theaters, S. 153. ↑
Literatur
- Eckhart G. Franz (Hrsg.), Die Chronik Hessens, Dortmund 1991, S. 344
- Erich Zimmermann, Als Darmstadt auf Georg Büchner pfiff. Ein Theaterskandal um „Leonce und Lena“, in: Darmstädter Echo, 25.6.1981, S. 21
- Hermann Kaiser, Modernes Theater in Darmstadt 1910–1933. Ein Beitrag zur Stilgeschichte des deutschen Theaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1955, S. 84 f.
- Hannes Heer, Darmstädter Expressionismus: Gustav Hartung oder die Verteidigung der Republik mit den Mitteln des Theaters, in: Tribüne: Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 50 (2011), H. 197, S. 150-160
Weiterführende Informationen
- Darmstadt, Landestheater/Szenenfoto der Erstaufführung von „Leonce und Lena“ von Georg Büchner (1813-1837), Regie: Gustav Hartung (1887–1946), Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Sign. HStAD\R 4\15586, Online: URL: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/M3FZ2M37ZWMRWCMGTZJ5N52YY2YNVGTE (eingesehen am 21.1.2015)
- Wikipedia: Georg Büchner (eingesehen am 21.1.2015)
- Wikipedia: Leonce und Lena (eingesehen am 21.1.2015)
- Wikipedia; Gustav Hartung (eingesehen am 21.1.2015)
- Wikipedia: Staatstheater Darmstadt (eingesehen am 21.01.2015)
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„Proteste bei Erstaufführung von Georg Büchners „Leonce und Lena“ in Darmstadt, 21. Januar 1923“, in: Hessen im 19. und 20. Jahrhundert <https://lagis.hessen.de/de/quellen-und-materialien/hessen-im-19-und-20-jahrhundert/alle-eintraege/566_proteste-bei-erstauffuehrung-von-georg-buechners-leonce-und-lena-in-darmstadt_proteste-bei-erstauffuehrung-von-georg-buechners-leonce-und-lena-in-darmstadt_proteste-bei-erstauffuehrung-von-georg-buechners-leonce-und-lena-in-darmstadt_proteste-bei-erstauffuehrung-von-georg-buechners-leonce-und-lena-in-darmstadt_proteste-bei-erstauffuehrung-von-georg-buechners-leonce-und-lena-in-darmstadt> (aufgerufen am 26.11.2025)
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