Von den Beamten der Niedergrafschaft vorzunehmende Inventarisierung und Erbverteilung bei jüdischen Todesfällen

HStAM 70 Hessen-Rotenburgische Hofkanzlei Nr. 5317  
Laufzeit / Datum
1779 Juni 8 – 11
Bearbeitung
Uta Löwenstein

Stückangaben

Regest

Auf die unlängst erlassene landesherrliche Verordnung, daß bey Sterbefällen derer Juden die Errichtung der Inventarien und Erbvertheilungen von denen Beamten vorgenommen werden sollen, beklagt sich die Judenschaft der Niedergrafschaft Katzenelnbogen, daß durch diese Verordnung viele schädliche Inconvenentien entstehen.
Statt selbst tätig zu werden, beauftragen die Beamten häufig die Ortsschultheißen mit der Inventarisierung und Verteilung der jüdischen Nachlässe sowie mit der Erteilung der Vormundschaft über unmündige Kinder. Deshalb werden oft nicht nur die Inventare nicht ordnungsgemäß errichtet, sondern auch die Erbschaftsverteilung nicht nach unserem mosaischem Gesätz, wie doch dieses tanquam Lex specialiter bey Erbschafften pro norma et basi angenommen, sondern nach Gutdünken oder zumindest nach dem gemeinen bürgerlichen Recht der Christen vorgenommen. So hat kürzlich zu Holzhausen [auf der Haide] nach dem Tode des Johiels der Schultheiß zusammen mit den Juden Scholum und Veist Meyer der Witwe den Nachlass verteilt und einen jungen ledigen Burschen zum Vormund der Kinder bestellt. In Holzhausen über Aar haben nach dem Tode des Herz Joel dessen Bruder Abraham Joel und Wolf von Schwalbach im Beisein des Schultheißen den Nachlass verteilt und Vormünder bestellt, wobei es dem Vernehmen nach höchst ungerecht zugegangen sein soll. Daraus folgt, dass weder die Schultheißen noch die gemeinen Juden, die nicht gelernte Rabiner sind, die zu einem zu Recht beständigen Inventario erforderliche Requisita und die denen Juden im mosaischen Gesätz vorgeschriebene Succesionsordnung verstehen und wissen. Mithin dürften nur die Beamten selbst oder Aktuare jüdische Inventare errichten, das Erbe verteilen und Vormünder bestellen, jedoch diese ebenfalls nach Anleitung und Verordnung unserer jüdischen Gebräuchen und Gesätzen. Allerdings besäßen auch sie nur selten die nötigen Vorkenntnisse, weshalb es geschehen könne, dass sie die Nachlassverteilung secundum ius commune et civile vornehmen und die dabei entstehenden Streitigkeiten ebenfalls danach entscheiden und so nach und nach [die Juden] von unseren mit dem Judenthum unzertrennlichen Gebräuchen und Gesätzen vertreiben und statt deren solche einführen, die unserer Religion und politischen Verfaßung nachtheilig sind, folglich wir dadurch an der uns ertheilten gnädigsten Protection unserer Ceremonien, Gebräuchen und mosaischen Gesetzen wenigstens per Indirectum gekräncket werden. Daher bitten die Supplikanten darum, dass künftig den Beamten befohlen werden möge, die Rabbiner in den vorgenannten Fällen hinzuzuziehen. Das ist um so wichtiger, als bereits eingeführt wurde, dass, wenn sich findet, dass beim Ableben eines Juden sein Vermögen größer war als bei der Schatzung angegeben, der dritte Teil des verschwiegenen Vermögens an die Judenschaft fallen soll, was die Beteiligung der Rabbiner bei der Nachlassinventarisation um so nötiger mache.

Ausfertigung

Supplik o. D. m. Präs. v. 8. Juni 1779; vgl. dazu a. d. diesbezüglichen, sich auf die Rabinerinstruktion von 1740 beziehenden Schriftwechsel 1778 – 1779, ebenda mit e. Anlage von 1773

Nachweise

Edition

Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg / Nachträge von Uta Löwenstein (ungedruckt), Nr. NL 706.

Nachnutzung

Rechtehinweise

Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, CC BY-SA 4.0

Zitierweise

Empfohlene Zitierweise

„Von den Beamten der Niedergrafschaft vorzunehmende Inventarisierung und Erbverteilung bei jüdischen Todesfällen“, in: Quellen zur jüdischen Geschichte <https://lagis.hessen.de/de/quellen-und-materialien/quellen-zur-juedischen-geschichte/alle-eintraege/14749_von-den-beamten-der-niedergrafschaft-vorzunehmende-inventarisierung-und-erbverteilung-bei-juedischen-todesfaellen> (aufgerufen am 25.11.2025)

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