Hl. Sippe (Hanau, Marienkirche)

Hl. Sippe. Mittleres Feld. Hanau, Marienkirche, Chor nord VI, 2b. Mittelrhein, um 1492/97.
Katalog
Von Daniel Hess
Abmessungen
Das Feld 2a wurde bei der letzten Restaurierung 1975/76 seitenverkehrt eingebaut; in Abbildung und Erhaltungsschema wird es hier jedoch seitenrichtig wiedergegeben.
Inschrift
Auf dem Schreibtäfelchen des Joseph Justus erscheint das Alphabet von A bis N in gotischen Minuskeln.
Erhaltung
Kompositorisch wie ikonographisch muß sich die Szene ursprünglich über drei Bahnen erstreckt haben; das rechte Feld ist verloren. Beide Felder sind unten und oben leicht beschnitten, Feld 2a ist überdies beidseitig um je einen Zentimeter angestückt. Der dennoch etwas knappe seitliche Anschluß der beiden Felder bezieht offenbar den Fensterpfosten in die Komposition ein. Beide Felder sind umfänglich doubliert und zeigen lediglich in den roten und violetten Tönen sowie im Marienkopf leichte Korrosion. Die trocken doublierten Deckgläser sind vereinzelt verschmutzt, die Malschichten partiell leicht berieben.
Ikonographie
Laut der seit dem 12. Jh. verbreiteten und von der Legenda aurea tradierten Trinubiumslegende war Anna dreimal verheiratet; diesen Ehen entstammen die Muttergottes sowie die im Neuen Testament mehrmals genannten zwei weiteren Marien. Die Legende, welche der Klärung der Verwandtschaft der drei Marien sowie der Brüder Jesu diente, war auch die Grundlage für die bildliche Darstellung der Hl. Sippe. In deren Mittelpunkt steht die Muttergottes mit Kind, welche links von ihrer Mutter und deren weiteren Töchtern Maria Kleophas und Maria Salome mit deren Kindern flankiert wird. Die zugehörigen Männer sind außerhalb des Mauergevierts dargestellt. Ferner umfaßt die Darstellung Annas Schwester Esmeria, welche rechts unterhalb der Muttergottes sitzt. Auf dem rechts anschließenden, verlorenen Feld befanden sich Esmerias Tochter Elisabeth mit dem Johannesknaben und den zugehörigen Männern sowie der Hl. Bischof Servatius, dessen Großvater Eliud ein Bruder Elisabeths war.
Komposition
In der Anordnung der Heiligen und der Aussonderung ihrer Männer außerhalb des Mauergevierts folgt die in der Glasmalerei seltene Darstellung einem seit dem frühen 15. Jh. geläufigen Bildtypus, wie ihn unter den frühesten Beispielen in der deutschen Tafelmalerei der ältere Kölner Sippenaltar um 1420 vertritt. In der Anordnung und Staffelung der Figuren kommt ein wohl mittelrheinisches Tafelbild um 1440 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt unserer Darstellung verblüffend nahe22. Da es archivalisch keinerlei Anhaltspunkte für eine spätere Übertragung in die Hanauer Pfarrkirche gibt und auch die Maße mit den übrigen Glasgemälden übereinstimmen, kommt auf Grund der dreibahnigen Anlage als ursprünglicher Standort nur der Chor in Frage, auch wenn die Hl. Sippe in Figurenmaßstab und Begrenzung der Szene auf eine Zeile von den übrigen Chorfenstern abweicht. Auch wenn nicht auszuschließen ist, daß die Szene von weiteren Darstellungen begleitet wurde, liegt im Kontext der übrigen Chorverglasung ursprünglich eine Sockelzone mit Stiftern(?) und eine über der Szene aufwachsende Architektur- oder Astwerkbekrönung näher23.
Farbigkeit
Maria trägt ein blaues Untergewand mit weißem Mantel, die darunter angeordneten Maria Kleophas und Esmeria ein rotes bzw. dunkelgrünes Untergewand mit blauem bzw. violettem Mantel; Justus mit dem Schreibtäfelchen ist bernsteinfarben gekleidet, sein Bruder Jacobus minor links vorn erscheint in einem grauen Mantel mit Nelkendamast. Die neben Maria sitzende Anna trägt über dem roten Untergewand einen weißen Mantel, Salome ein violettes Untergewand mit dunkelgrünem Mantel; der vor ihr stehende Johannes Evangelist ist grauviolett gekleidet. Die über die hellbraune Mauer gelehnten Ehemänner tragen von links nach rechts ein rotes, weißes und hellblaues sowie ein blaues und gelbes Gewand mit Nelkenmuster, Joseph schließlich einen roten Umhang über einem graublauen Gewand; die Kopfbedeckungen zeigen die Farben Braunviolett und Rot, bzw. Grisaille und Silbergelb. Inkarnate in Grisaille, Haare und Nimben silbergelb. Blauer Damastgrund.
Stil, Datierung
Wie von der Forschung bereits mehrfach betont, ist die Hl. Sippe deutlich den Glasmalereien der Straßburger Werkstattgemeinschaft verpflichtet, wobei die ältere, 1482 entstandene Chorfenstergruppe in der Pfarrkirche Lautenbach im Renchtal, vor allem im Typus der weiblichen Köpfe (Textabb. 46) am nächsten kommt24. Trotz dieser engen Verwandtschaft weicht die Technik in Hanau erheblich ab: Anstelle der weichen Modellierung, den aus dem Halbton herausgestupften Lichtern und mit feinen Schraffurgeweben akzentuierten Schatten wirkt die Zeichnung in Hanau schematischer und plakativer. Eine ähnliche Versprödung läßt sich auch in der Modellierung der Gewänder beobachten, deren Zeichnung darin den Werken der zweiten Straßburger Generation näherkommt. Trotz der Zusammenhänge mit Lautenbach spricht folglich alles für eine gemeinsame Entstehung mit der übrigen Hanauer Chorverglasung. Der für die Hl. Sippe verantwortliche Glasmaler kam offenbar aus der Straßburger Werkstatt-Kooperative, hatte diesen Kreis aber bald nach 1482 verlassen. Deshalb zeigen seine Werke keine Zusammenhänge mit den verschiedenen Richtungen der in der Nachfolge der Straßburger Werkstattgemeinschaft entstandenen Glasmalereien in Obernai (um 1494), Zabern (um 1495) und ehemals Freiburg (1494) sowie in Wörlitz (um 1490, 1497) und Karlsruhe (um 1490)25. Zu Recht hat Beeh-Lustenberger diesem Glasmaler auch die Ende des 15. Jh. entstandene Chorverglasung in Büttelborn zugeschrieben, von der jedoch nurmehr drei Fragmente erhalten sind26.
Bildnachweis
CVMA G 8780f., Details G 8789-9794, Großdias G 35f.
Nachweise
Fußnoten
- Vgl. hierzu Beeh, 1990, S. 166f., Nr. 42. Zum Kölner Sippenaltar vgl. Zehnder, 1990, S. 21-24. ↑
- Als Vergleich hierfür bietet sich die Rekonstruktion des Chorfensters süd III in der Tübinger Stiftskirche um 1477 an, welches über einer allerdings zweizeiligen Sockelzone eine einzeilige, über drei Bahnen ausgedehnte Szene mit Bekrönung zeigt; vgl. Becksmann, CVMA Deutschland I, 2, 1986, Tafel XXIII. Als begleitende Szenen kommen auf der
Basis von Tafelgemälden des 15. Jh. Darstellungen von der Verkündigung bis zur Anbetung der Könige, oder aber ein Stammbaum Christi in Frage; letzteren zeigen die Flügelaußenseiten einer Sippendarstellung um 1460 in Darmstadt (s. Beeh, 1990, S. 108f., Nr. 21) und ein 1501 datierter, vermutlich aus Mainz stammender Wirkteppich (Cantzler, 1990, S. 224f., Nr. 45). ↑ - Vgl. Becksmann, CVMA Deutschland II, 1, 1979, bes. S. 162, Abb. 193-197, 216-218. ↑
- Zu Obernai und Zabern vgl. Gatouillat, 1994, S. 180f., 188-190; die für Zabern erhaltene Quelle von 1499 (s. Kat. Ausst. Ulm 1995, S. 15f.) bezieht sich auf die Verglasung des Fensters über dem Lettner (süd VII), jedoch nicht auf den offenbar an seinem ursprünglichen Standort erhaltenen Passionszyklus in der 1493 begründeten Marienkapelle. Zur Freiburger Stiftung vgl. neuerdings Daniel Parello, Die ersten Glasmalereien für den Hochchor des Freiburger Münsters. Rekonstruktion zweier Straßburger Scheiben aus dem Jahr 1494, in: Jb. der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 34, 1997, S. 6-31, zu den
Wörlitzer Scheiben Kat. Ausst. Ulm 1995, S. 153-156, Nr. 37-39. Ferner seien auch die vermutlich aus Neuweiler stammenden, mit dem Zaberner Passionszyklus verwandten Scheiben in Karlsruhe (gegen 1490) erwähnt; s. Becksmann, CVMA Deutschland II, 1, 1979, S. 82-84, Nr. 42-44. Alle diese Glasgemälde gehören in den Kreis jener Werke der zweiten Generation der Straßburger Werkstattgemeinschaft und zeigen keinerlei Zusammenhänge mit Hanau. Einzig im Münchner Scharfzandt-Fenster, für dessen Vollendung man bisher das Jahr 1493 annahm, entdeckt man bei einigen Figuren verwandte Kopfbildungen. Da dieses Fenster in seinem Aufbau und seinen Bekrönungen, im Typus und in der Zeichnung der Figuren engste Zusammenhänge mit den um 1480/82 entstandenen
Werken der Straßburger Kooperative aufweist, hingegen keine Verbindungen zu den erwähnten Werken der zweiten Generation mit ihren andersartigen Figuren und den spielerischen, von einer breiten Wandfläche hinterlegten Bekrönungen zeigt, ist die Vollendung dieses Fensters viel eher 1483 anzusetzen. Es fügt sich damit nahtlos an die Entwicklung von Tübingen nach Ulm und Nürnberg an, während das Fenster bei einer Datierung in die neunziger Jahre merkwürdig altertümlich und isoliert erscheint. Für eine Korrektur jener im 19. Jh. unvollständig überlieferten Jahreszahl auf 1483 sprechen auch die beiden Einträge in der Münchner Stadtkammerrechnung von 1480 und 1481, welche neben
einer Verehrung von drei Kannen Wein an einen Straßburger Glasmaler auch eine Reise des Münchner Glasers Conrad nach Straßburg überliefern und sich damit mit dem Fenster in Verbindung bringen lassen. Zu diesen Quellen vgl. Susanne Fischer (s. Anm. 8), 1997, S. 24, zum Scharfzandt-Fenster, seiner Überlieferung und Datierung Frankl, 1956, S. 104-115, sowie Ders., in: ZfKw 16, 1962, S. 205f. ↑ - Vgl. Beeh-Lustenberger (s. Bibl.), 1984, S. 28, mit Farbabb.; dieser Bestand wird im Rahmen des in Vorbereitung befindlichen ersten hessischen Teilbandes (CVMA Deutschland III, 1) behandelt werden. ↑
Drucknachweis
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet / Daniel Hess (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland Bd. III, 2), Berlin 1999, 252 f. [= 2a/b. Hl. Sippe]
Indizes
Siehe auch
Extern
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Nachnutzung
Rechtehinweise
Katalogdaten: Corpus Vitrearum Deutschland / Freiburg i. Br.
Abbildungen: siehe Angaben beim jeweiligen Digitalisat
Zitierweise
Empfohlene Zitierweise
„Hl. Sippe (Hanau, Marienkirche)“, in: Mittelalterliche Glasmalereien in Hessen <https://lagis.hessen.de/de/quellen-und-materialien/mittelalterliche-glasmalereien-in-hessen/alle-eintraege/210-1-05-01_hl-sippe-hanau-marienkirche> (aufgerufen am 25.11.2025)
Kurzform der URL für Druckwerke
https://lagis.hessen.de/resolve/de/cvmahessen/210-1-05-01






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