Groß-Umstadt

Bearbeitet von Helga Krohn, überarbeitet von Daniel Ristau  
Topografische Karten
KDR 100, TK25 1900 ff.
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Basisdaten

Juden belegt seit

1378

Lage

64823 Groß-Umstadt, Untere Marktstraße 38

erhalten

ja

Jahr des Verlusts

1979

Art des Verlusts

Abbruch und Translokation

Gedenktafel vorhanden

ja

Synagogen-Gedenkbuch Hessen

Geschichte

Die erste Erwähnung eines Juden in Groß-Umstadt stammt aus dem Jahr 1378, als am 15. August Josel oder Josef in einer Urkunde genannt wird. Auch für die folgenden Jahrzehnte existieren Belege für einzelne Juden in Groß-Umstadt. 1495 wird die Bezeichnung "Judengasse" in einem Abgabenverzeichnis erwähnt, obwohl sich in dieser Zeit keine weiteren Belege für den Aufenthalt von Jüdinnen und Juden finden lassen. Das kann vermutlich auf die restriktive kurpfälzische Judenpolitik in dieser Zeit zurückgeführt werden. Einzelne Juden werden im 15. und 16. Jahrhundert in Steuer-, Zins- und Gerichtsakten genannt, so 1538 die Jüdin Rosina und 1542 Lazarus, dessen Schwiegersohn Salomon mit seiner fünfköpfigen Familie in Klein-Umstadt lebte. 1548 sind zudem Rosinas Söhne Mosse und Abraham aufgeführt. Etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges werden dann keine Jüdinnen und Juden mehr in Groß-Umstadt erwähnt.1

1628 werden Salomon und 1634 Jacob, Samuel und Mosche in der Stadt genannt, die auch zur Truppenversorgung Abgaben zu entrichten hatten. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wird zudem erneut eine "Judengasse" am Schrannenturm erwähnt.2

In Klein-Umstadt wird erstmals wieder 1639 mit Mosche ein Jude aktenkundig. Zwischen 1678 und 1681 hielten sich im Ort Abraham, von 1686 bis 1690 Hirtz und 1692 der junge Hirtz auf. Auch 1709 werden drei Schutzjuden erwähnt. 1719 lebten in Klein-Umstadt noch zwei Juden, eine Jüdin und vier Kinder. Sie besuchten vermutlich wahlweise die Synagogen in Raibach und Groß-Umstadt.3

Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde zunächst die Ansiedlung neuer Untertanen gefördert, auch von Juden. 1661 wurde Götz und dessen Ehefrau Buhla beispielsweise der Erwerb eines Hauses gestattet. Bald darauf aber zeigten die Landesherrschaften Kurpfalz und Hessen-Darmstadt, unter deren Schutz die Umstädter Juden standen, nur noch geringe Bereitschaft, weitere Schutzbriefe auszustellen. Konflikte resultierten in dieser Zeit wiederholt daraus, dass die Groß-Umstädter Jüdinnen und Juden sowohl gegenüber der kurpfälzischen als auch der hessisch-darmstädtischen Regierung Schutzgelder zu entrichten hatten, deren Aufteilung im Mannheimer Vertrag von 1680 festgehalten worden war.4

1719 lebten in Groß-Umstadt vier jüdische Familien mit insgesamt 23 Personen bei einer Gesamtzahl von 1.661 Einwohnern, was einem Bevölkerungsanteil von rund 1,4 Prozent entsprach. Der Makler und Geldhändler Samuel Feist war dabei mit einem zu versteuernden Kapital von 12.000 fl. der mit Abstand vermögendste Umstädter Jude. Übergriffe gegen ihn und seinen Sohn durch christliche Einwohner waren wohl auch der Missgunst aufgrund ihrer guten Vermögensverhältnisse geschuldet. Die anderen Juden verdienten ihren Lebensunterhalt in erster Linie als Viehhändler, handelten aber auch mit Früchten, einer zudem mit Eisen.5

Mit dem Übergang Groß-Umstadts an das Großherzogtum Hessen endete schließlich auch die doppelte Rabbinatszuständigkeit für die dort lebenden Jüdinnen und Juden, die spätestens ab 1826 dem Landrabbinat in Darmstadt unterstellt waren. Am Ende des 19. Jahrhunderts ordnete sich die jüdische Gemeinde offiziell dem orthodoxen Rabbinat Darmstadt II zu.6

Ab dem 19. Jahrhundert zogen viele Jüdinnen und Juden, die über Vermögen verfügten und das Bürgerrecht erwerben konnten, aus den Dörfern in die Städte. Nach Umstadt kamen insbesondere Familien aus dem Nachbarort Raibach, das einen prozentual hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte. Zu ihnen zählte bereits 1807/1808 der Eisenhändler, Seifensieder und spätere langjährige Vorsteher der jüdischen Gemeinde Jüdel Aron Klipstein, der 1821 das Bürgerrecht erwerben konnte. Bis Ende der 1820er-Jahren stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden auf 80 an. 1840 lebten in Groß-Umstadt 16 jüdische Familien, von denen aber zwölf Existenzsorgen hatten oder arm waren. Haupterwerbszweige waren im 19. Jahrhundert der Handel mit Eisen, Früchten, Mehl, Vieh und Pferden. Bonum Freudenstein gründete eine Speisewirtschaft, Esther Breidenbach eine Schneiderei. Nach 1900 waren die Umstädter Jüdinnen und Juden vor allem im Verkauf von Alltagswaren tätig, darunter Kleidung, Stoffe, Lebensmittel, Tabak und Spezereien. Die Einbindung in die örtliche Gesellschaft belegen auch ihre Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinen. So gehörte Sally Willner dem Turnverein 1878 an und Gustav Grünebaum war Torwart der Handballmannschaft. Arthur Rapp wiederum gehörte dem Karnevalsverein und dem Männergesangsverein Liederkranz als Vorstand an. Zu den Umstädter Gefallenen des Ersten Weltkriegs zählten mit Jakob Kahn und Moritz Lichtenstein auch zwei Juden. Weitere aktive Kriegsteilnehmer waren Mitglieder der 1934 in Darmstadt gegründeten Ortsgruppe des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten.7

In den 1920er-Jahren nahm die Zahl der Jüdinnen und Juden in Groß-Umstadt schrittweise ab: Lebten 1925 noch 82 Personen jüdischen Glaubens im Ort – in Klein-Umstadt waren es noch acht – ging ihre Zahl bis 1932/1933 auf 60 beziehungsweise sechs in Klein-Umstadt zurück. Die Ideen der Nationalsozialisten fielen in der Region und besonders im protestantisch-mittelständigen Groß-Umstadt in der Phase der Weltwirtschaftskrise schnell auf fruchtbaren Boden. Mit der Machtübernahme sahen sich die Umstädter Jüdinnen und Juden bald mit antisemitischen Kampagnen konfrontiert, die sich unter anderem gegen die von ihnen betriebenen Geschäfte richteten und auch nichtjüdische Käuferinnen und Käufer bloßstellen sollten. Noch vor dem Novemberpogrom wurden in der Nacht vom 15. zum 16. Oktober 1938 die Fensterläden des Hauses von Leopold Rapp demoliert.8

Der Verfolgungsdruck führte dazu, dass viele jüdische Familien den Ort verließen. Teils zogen sie in größere Städte, wie Frankfurt am Main, teils gelang ihnen die Flucht in die USA, nach Brasilien oder Südafrika. Im November 1941 galt die Stadt als „judenfrei“. Insgesamt wurden von den 57 Anfang 1933 in Groß-Umstadt lebenden Jüdinnen und Juden 24 während der Shoah ermordet. Die letzte in Klein-Umstadt lebende Jüdin, Bertha Bickert, wurde 1943 verhaftet und im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz umgebracht.9

1985 wurde am Darmstädter Schloss in Groß-Umstadt ein Mahnmal zur Erinnerung an die Synagoge eingeweiht, das eine große schmiedeeiserne Menora ziert. Eine später ergänzte Sandsteinsäule nennt die Namen der während der Shoah ermordeten Umstädter Jüdinnen und Juden. Stolpersteine wurden erstmals 2011 in der Stadt verlegt.10

Statistik

  • Groß-Umstadt
  • 1542 2 Familien mit 10 Personen
  • 1637 3 Schutzjuden im Amt Umstadt
  • 1643 3 Familien
  • 1707/08 7 Schutzjuden
  • 1719 4 Beisassen mit 23 Personen
  • 1790 6 Familien
  • 1829 80 Personen
  • 1840 16 Familien
  • 1871 77 Personen
  • 1887/88/89 81 Personen
  • 1892 71 Personen
  • 1900 84 Personen
  • 1913 77 Personen
  • 1925 82 Personen
  • 1932/1933 60 Personen
  • Februar 1933 57 Personen
  • November 1938 26 Personen
  • 31. Dez. 1938 18 Personen
  • Dezember 1939 4 Personen
  • November 1941 0 Personen
  • Klein-Umstadt
  • 1829 15 Personen
  • 1867 21 Personen
  • 1900 8 Personen
  • 1913 12 Personen
  • 1925 8 Personen
  • 1932/33 6 Personen

Quellenangabe Statistik

Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 245-246.

Betsaal / Synagoge

Private Gottesdienste im 18. Jahrhundert

Über das religiöse Leben der Umstädter Jüdinnen und Juden finden sich für die Frühe Neuzeit nur wenige Informationen. So wird um 1724 ein Rabbi Mayer im Haushalt von Salomon Samuel erwähnt. Wohl in den 1730er-Jahren beschäftigte der Vieh- und Kramhändler Jakob Zodick den Schulmeister Abraham Zimmern aus Mannheim. 1755 wird im Zusammenhang mit einem Streitfall für Groß-Umstadt erstmals eine „Judenschul“, also Synagoge, genannt. Demnach sei Baruch Salomon durch Samuel Abraham während des Gottesdienstes in Bedrängnis gebracht worden. 1766 wird der Judenschulmeister Samuel Wolff erwähnt. Es darf deshalb angenommen werden, dass bereits zu dieser Zeit regelmäßig Gottesdienste im Ort in dazu eingerichteten Privaträumen stattfanden.

1790 befand sich die Synagoge möglicherweise bereits im Haus des Löser Samuel Breidenbach an der Ecke Obere Marktstraße/Pfälzergasse, in dessen Anwesen auch die Mikwe untergebracht war. 1823 verkaufte Breidenbach seine Hofreite. Die jüdische Gemeinde mietete daraufhin einen Raum zur Abhaltung des Gottesdienstes an.11 Die Kosten wurden durch „Vermiethung der Stühle in dieser Schule ohne Zwang“ aufgebracht.12

1825 erwarb die israelitische Gemeinde ein Grundstück am damaligen Stadtrand, das Teil eines wenig attraktiven Gewerbegeländes war, auf dem vorher eine Abdeckerei (Wasenmeisterei) existiert hatte. Dort sollte nach dem Plan des Vorstehers Jüdel Aron Klippstein zeitnah eine neue Synagoge mit Mikwe errichtet werden. Den Umstädter Juden fehlte aber das Geld zum Bau einer Synagoge. Wiederholten Nachfragen ist zu entnehmen, dass der Landrat auf den Baubeginn drängte, die jüdische Gemeinde ihm aber erwiderte „daß die Armuth der Juden Caste und die bedrückte Lage der Judenfamilien es nicht gestatte, es aber geschehen solle“. Sie äußerten die Hoffnung auf eine Unterstützung durch ihre „Glaubensgenossen zu Frankfurth“, die allerdings wohl nicht erfolgte.13 Aufgrund der obwaltenden Meinungsverschiedenheiten über den Fortgang der Angelegenheit ordnete der Landrat ein Jahr später eine Befragung von zwölf Juden an. Diese wünschten mehrheitlich den Bau einer Synagoge mit Mikwe. Da sich aber alle nicht in der Lage sahen, den für sie errechneten finanziellen Beitrag zu erbringen, hielten viele den Bau einer Mikwe für wichtiger, weil „die Religion sie fordere“.14

Die alte Synagoge

Offenbar gelang es der jüdischen Gemeinde in den Folgejahren schließlich doch noch, auf einem neben der Mikwe 1846 erworbenen Grundstück auch eine Synagoge zu errichten. 1855 ist dort von Beschädigungen am Wohneigentum der jüdischen Gemeinde die Rede. In den Lageplan für den Neubau ist eine „alte Synagoge“ eingetragen. Es handelte sich um ein äußerst einfach gehaltenes Gebäude mit „sehr primitivem Betraum“, das höchstens 29 qm groß war. Auch der Religionslehrer soll dort unter sehr beschränkten Bedingungen gewohnt haben. Das alte Synagogengebäude wurde nach dem Neubau von 1874 abgerissen.15

Die neue Synagoge, Untere Marktstraße 38

1866 reichte die jüdische Gemeinde Pläne zum Neubau einer Synagoge mit Schule und Lehrerwohnung ein.16 Das Innenministerium gestattete, zur Finanzierung eine Spendensammlung unter den Jüdinnen und Juden in der Provinz Starkenburg vorzunehmen. Mit einem „Aufruf zur Mildtätigkeit“ wandte sich der Vorstand der jüdischen Gemeinde am Jahresende 1866 an alle „Glaubensgenossen“ mit der Bitte, Geld zu spenden, da man selber nur 400 Rthl. aufbringen könne und ihnen noch 2.000 Rthl. fehlen würden.17

Mit Unterstützung anderer jüdischer Gemeinden, des Großherzogs von Hessen und sogar von kirchlicher Seite konnte letztlich das Gotteshaus errichtet werden. Am 21. Mai 1874 weihten die Juden in Groß-Umstadt die neu erbaute Synagoge ein. Die Einweihung war ein Festtag für die kleine jüdische Gemeinde und den gesamten Ort. Der Landesrabbiner aus Darmstadt, Julius Landsberger, leitete den Gottesdienst. Der Bürgermeister, Stadtverordnete, Vertreter des Kreises, die Pfarrer und die Lehrerschaft der Real- und Volksschule nahmen als Honoratioren an der Weihe teil. Der Gesangsverein "Liederkranz" trug auf Hebräisch Psalm 150 vor. Der „Odenwälder Bote“, die örtliche Tageszeitung, brachte einen ausführlichen Bericht über die Einweihungsfeier, der mit dem Wunsch schließt, „daß wir dem hohen Ziel allseitiger Duldsamkeit immer näher kommen“.18 Nach dem Morgengottesdienst in der alten Synagoge wurden die Thorarollen unter Musikbegleitung in den Neubau getragen. Der Kreisrat Friedrich Küchler hielt eine Ansprache und überreichte die Schlüssel dann an Landsberger, der die Synagoge öffnete. Der Rabbiner selbst hielt die Weihepredigt. Am Folgetag, dem 22. Mai, richtete die jüdische Gemeinde nachmittags einen großen Festball im Rheinischen Hof aus.19

Das Synagogengebäude war etwa 12,50 m lang und 10,80 m breit. Es war auffallend klein für eine Stadt und stand abseits des damaligen Stadtzentrums in der Unteren Marktstraße (heute: In der Fahrt). Über den beiden für den Religionslehrer und die Erteilung des Religionsunterrichts genutzten Nebenräumen befand sich auf der Westseite die Frauenempore, zu der eine Treppe aus dem Vorraum führte. Die in den Entschädigungsunterlagen der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) enthaltene Bestuhlungsskizze zeigt zudem, basierend auf den Aussagen von Arthur Rapp, eine zweite Empore an der Westseite. Insgesamt soll es 32 Betplätze für Frauen und Unverheiratete gegeben haben. An die beiden Zimmer im Erdgeschoss schloss sich der etwa 9,40 m mal 7,10 m große Betsaal an. Dem Thoraschrein mit hölzernem Aufbau an der Ostseite war dem Bauplan zufolge direkt die Bima (Vorlesepult) angegliedert, wie es für liberale jüdische Gemeinden typisch wurde. Diese war von einem schmiedeeisernen Gitter umgeben. Die leicht gewölbte Holzdecke war blau und mit kleinen Sternen bemalt.20 Insgesamt soll der Hauptraum über 44 Betplätze verfügt haben. Am Vorlesepult befanden sich Plätze für die Kinder. Erbaut wurde das Haus mit Odenwälder Bruchsteinen. Das Satteldach war mit Bieberschwanzziegeln eingedeckt und trug zwei Schornsteine. Die in der Mittelachse liegende leicht erhöhte Eingangstür lag zur Straße hin. Sie war mit einem Rundbogen aus rotem Sandstein eingefasst. Über der Tür befand sich eine Tafel mit einer hebräischen Inschrift aus dem 1. Buch Moses (28, 17): „Wie Ehrfurcht gebietend ist diese Stätte, hier ist nichts anderes als das Haus Gottes, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Darüber befand sich eine Rundbogenöffnung mit einem Rosettenfenster. Auf jeder Seite hatte die Synagoge drei hohe Rundbogenfenster, die ebenfalls mit rotem Sandstein eingefasst waren. Auf der rechten Seite befand sich im ersten Fenster eine steinerne Sprosse mit einer weiteren hebräischen Inschrift: „Haus des Gebets Israel“.21

1958 beschrieb der in die USA emigrierte Arthur Rapp aus dem Gedächtnis die Einrichtung der Synagoge für die Entschädigungszahlungen wie folgt: „Es waren ca. 45 Plätze für Männer unten links und rechts für Kinder. Sämtliche Frauen hatten einen Sitz oben und in der 2. Reihe, oben Sitze für ledige Personen. Dann 1 Zimmer für Lehrer und 1 Zimmer Schulkinder. […] Ferner hatte die Synagoge einen noch nicht zu alten Aron Hakodesch aus Holz von einer amerik.n Frau gestiftet, ferner hatten wir 4 gute Torarollen, Silberschmuck (antik) und verschiedene sehr gut erhaltene Broches (Vorhänge) Mäntelchen aus Samt wunderbar gestickt.“22 In einem 1959 von der JRSO eingereichten Ergänzungsantrag zu den Rückerstattungsunterlagen ist der Silberschmuck aufgezählt, darunter Thorakronen, Lesefinger (Jad), Chanukkaleuchter und Weinbecher, außerdem 30 handbemalte und bestickte Wimpel, ein Trauhimmel und etwa 50 Gebetbücher.23 Was davon aber tatsächlich in der Synagoge vorhanden war, lässt sich nicht präzise sagen, weil derartige nachträgliche Aufstellungen vor allem auf Augenzeugenberichten und Annahmen über die typische Ausstattung von Synagogen beruhten.

Gut sechs Jahrzehnte konnten die Umstädter Jüdinnen und Juden in ihrer Synagoge ungestört Gottesdienst abhalten. Das Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen wurde mit einem jüdischen Ball im Gasthaus Zum Lamm gefeiert, allerdings auch eine sich verstärkende judenfeindliche Tendenz festgehalten, seien doch aus einigen der Sänger bei der Einweihung nunmehr sogar Antisemiten geworden. Wenige Jahre später wurde der schlechte Zustand des Gebäudes beklagt. Inwiefern eine Renovierung erfolgte, auf die 1914 ein erhöhtes Spendenaufkommen, das auch für die Neuanschaffung von Inventar oder Ritualobjekten genutzt worden sein könnte, durchgeführt wurde, ist nicht bekannt.24

Als in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 die SA-Brigade 50, Standarte 186 aus Darmstadt den Auftrag erhielt, in ihrem Zuständigkeitsbereich „sämtliche jüdischen Synagogen zu sprengen oder in Brand zu setzen“, wurde die Synagoge in Groß-Umstadt wegen der benachbarten Häuser nicht gänzlich zerstört, aber die gesamte Inneneinrichtung vernichtet. Beteiligt daran waren vor allem Jugendliche des Landdienstes und der Hitlerjugend. Die zertrümmerte Einrichtung der Synagoge wurde auf den Marktplatz geschleppt und dort verbrannt. Der Sohn von Heinrich Eidmann und ein französischer Austauschschüler nahmen Fragmente von Thorarollen an sich. Eidmann übergab sie im November 1945 der amerikanischen Militärregierung. Ihr weiterer Verbleib ist unbekannt. Eine weitere Thorarolle hatte Albert Rapp bei seiner Emigration mit in die USA genommen.25

Die Übergriffe auf Wohnungen und Geschäfte der jüdischen Umstädter organisierte der NSDAP-Ortsgruppenleiter Valentin Wetzel. Die gegen 20 Uhr durch in Zivil gekleidete NSDAP- und SA-Männer begonnenen Angriffe richteten sich gegen die Wohn- und Geschäftsräume der Gebrüder Rapp in der Karlstraße, den Pferdehändler Simon Lichtenstein in der Schulstraße, Amalie Götz in der Entengasse, Jenny Lichtenstein in der Curtygasse sowie weitere jüdische Familien im Ort.26

Bereits am späten Nachmittag des 10. November waren Max Oestreich, Albert und Arthur Rapp in das Stadtgefängnis neben der Synagoge gesperrt und am Tag darauf ins Konzentrationslager Buchenwald abtransportiert worden. Gustav Rapp war auf dem Weg nach Höchst ebenfalls in „Schutzhaft“ genommen und in das Lager überstellt worden. Während den drei Erstgenannten nach ihrer Freilassung am Jahresende 1938 die Emigration gelang, wurde er 1941 in Konzentrationslager Dachau verschleppt und 1942 in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim ermordet.27

Nach seiner Entlassung aus Buchenwald unterschrieb der Vorsteher der Israelitischen Gemeinde Albert Rapp zusammen mit den wenigen noch in Groß-Umstadt verbliebenen Jüdinnen und Juden – Julius und Rosa Rothschild, Amalie Götz und Mina (Minna) Liebmann – den Verkauf des Synagogengebäudes an Bürgermeister Georg Magsaam, der neben der Synagoge seinen Hof hatte, zum Preis von 1.000 RM. Nach nachträglicher Zustimmung der „vorübergehend abwesenden Mitglieder der israelitischen Gemeinde Groß-Umstadt“ – sie stimmten im Januar 1939 per Unterschrift zu – wurde der Verkauf im August 1939 genehmigt.28 Das Kaufgeld sollte zur Versorgung den armen, noch in Groß-Umstadt verbliebenen Gemeindemitgliedern zugutekommen, erreichte diese aber nicht. Vielmehr teilte Magsaam im November 1941 dem Landrat des Kreises Dieburg mit, dass Groß-Umstadt nach der Deportation von Simon Lichtenstein und seiner Tochter Minna Liebmann im Vormonat nunmehr „judenfrei geworden ist“. Eine jüdische Gemeinde bestehe nicht mehr, „[d]er Erlös für die Synagoge mit Nebengebäuden wurde bereits mit Zustimmung der Landesregierung an die Reichsvereinigung der Juden in Mainz abgeführt“.29

Das Gebäude wurde fortan als Lager- und Abstellraum für landwirtschaftliche Geräte benutzt, die Fenster mit Läden dicht gemacht. Sichtbar blieben die hebräischen Inschriften. Die JRSO verlangte eine Entschädigung für das unter Wert verkaufte Gebäude und die zerstörte Inneneinrichtung. 2.400 DM hatte Georg Magsaam 1960 nachzuzahlen, blieb dadurch aber endgültig im Besitz des Gebäudes. Für Gebäudeschäden, die zerstörte Inneneinrichtung und die vernichteten Kultgeräte wurden der JRSO 60.721 DM zugesprochen.30

Erst Mitte der 1970er-Jahre regte sich bei einzelnen Groß-Umstädtern Interesse an dem verfallenden Gebäude. Es wurden Anstrengungen gemacht, die Stadt für den Kauf des Hauses zu gewinnen. Der Besitzer, der Sohn des Käufers von 1938, hatte eine Abbruchgenehmigung beantragt, weil er sein Grundstück mit einer Steinmauer umgeben wollte. Der Antrag wurde ihm umgehend bewilligt, allerdings schlug das Kreisbauamt die Umsetzung der ehemaligen Synagoge in das Freilichtmuseum Hessenpark in Neu-Anspach vor. Das Landesamt für Denkmalpflege stimmte diesem Vorschlag zu und verzichtete auf einen Eintrag in die Denkmalliste. Dagegen setzten sich SPD, Jungsozialisten, Jugendring, die Kirchen, der Ortsbeirat und der 1978 gegründete „Verein zur Bewahrung der Groß-Umstädter Synagoge“ intensiv für den Verbleib des Gebäudes an seinem bisherigen Standort oder zumindest in Groß-Umstadt ein. Sie knüpften Kontakte zu emigrierten Jüdinnen und Juden und begannen, die Geschichte der Synagoge und der jüdischen Ortsbewohner zu erforschen.31 Der Bürgermeister und die politische Mehrheit von CDU und PBV (Parteilose Bürgervereinigung) ließen eine offene Auseinandersetzung jedoch nicht zu, sondern beschleunigten vertragliche Regelungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie verzögerten absichtlich Verhandlungen im Stadtparlament wie auch die Suche nach einem geeigneten Grundstück in Groß-Umstadt. Während der laufenden Auseinandersetzungen stürzte das Dach des Gebäudes ein. Einen Tag vor einer erneuten Abstimmung im Stadtparlament Ende April 1979 begann eine Firma mit dem Abbruch, der nicht mehr aufgehalten wurde. Bei diesem unsachgemäßen Vorgehen wurden nur wenige Steine so verzeichnet, dass ein originaler Wiederaufbau möglich gewesen wäre.32

Die rekonstruierte Synagoge im Freilichtmuseum Hessenpark

Das Freilichtmuseum Hessenpark baute die Synagoge erst zwischen 1983 und 1988 wieder auf. Sie fand ihren Platz weit ab von dem genutzten Museumsgelände als Solitär. Der Aufbau wurde einer überbetrieblichen Lehrwerkstatt übertragen. Trotz vorliegender Baupläne von 1866 wurde der Giebel zwei Meter zu hoch gezogen, so dass schon die äußere Gestalt stark von der der ursprünglichen Synagoge abweicht. Das Gebäude stand dann zunächst leer und diente als Abstellraum. Erst 2012 wurde es für Besucher zugänglich. Im Mai 2016 wurde dort die Dauerausstellung „Sie waren hier: Jüdisches Landleben in Südhessen“ eröffnet, in der auch die Schicksale der Synagogen in Dieburg, Zwingenberg und Michelstadt thematisiert sind.33

Am ehemaligen Synagogenstandort in Groß-Umstadt befindet sich heute ein Garten. Eine Tafel bietet Informationen zur Geschichte des jüdischen Gotteshauses.34

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Eine Mikwe der jüdischen Gemeinde ist zunächst im Anwesen des Löser Samuel Breidenbach an der Ecke Obere Marktstraße/Pfälzergasse bekannt, das 1823 verkauft wurde.35

Im Jahr 1825 brauchte die jüdische Gemeinde nicht nur eine Synagoge, sondern auch ein neues rituelles Bad. Die bisher genutzte Mikwe war von der staatlichen Aufsicht geschlossen worden, weil sie hygienischen Vorschriften nicht mehr entsprach. Da die Gemeinde die finanziellen Mittel zum Bau einer Synagoge vorerst aber nicht aufbringen konnte, entschloss sie sich schließlich wenigstens zur Errichtung einer Mikwe, um so den religiösen Pflichten Genüge tun zu können. Das Bad, von dem weder eine Bauzeichnung noch eine Beschreibung existiert, wurde auf dem am Stadtrand erworbenen Gelände über der ehemaligen Wohnung des Wasenmeisters gebaut und spätestens 1832 fertiggestellt, als die Mikwe nach einer Beschwerde durch den Amtsarzt geprüft wurde. Nachdem 1840 festgestellt worden war, dass das Wasser mit Jauche verunreinigt war, wurde die Nutzung untersagt. Eine wohl 1846 neu eingerichtete Mikwe gab 1852 erneut Anlass für Beschwerden.36 Im Katasterblatt von etwa 1870 findet sich dann die handschriftliche Notiz „abgebrochen“.

Erst ab Juni 1886 konnte die inzwischen wohlhabender gewordene jüdische Gemeinde wieder ein neues Frauenbad bauen.37 Dieses Gebäude, ein kleines Giebelhaus am Mühlbach in der Nähe der Gerbgruben und Gerbhäuser (Ecke Mörsweg/Hinter der Schnell), ist erhalten. Es wurde im August 1935 verkauft und zu einem Wohnhaus umgebaut.38

Schule

Ab 1825 erteilte Löb (Löw) Simon, der auch als Chasan (Vorsänger) wirkte, jüdischen Religionsunterricht in seinem Wohnzimmer.39 In der seit 1860 erscheinenden Zeitung „Der Israelit“ wurde regelmäßig in Anzeigen ein „seminaristisch ausgebildeter Lehrer“ gesucht, der auch als Vorsänger und Schochet fungieren konnte.40 Von 1898 bis 1914 hatte diese Ämter Levi Stein inne, der auch ein Israelitisches Knabenpensionat führte, das im Schloss untergebracht war. Zwischen 1906 und 1911 besuchten seinen Unterricht zwischen acht und zehn Kinder. Stein folgte im Amt zunächst A. Scheuer nach, der nur noch Kinder in Habitzheim unterrichtete, ab 1913 dann als Religionslehrer und Vorsänger Kahn, der aus Orb stammte.41 Nach 1924 hatte die israelitische Gemeinde keinen eigenen Lehrer mehr.

Die Schulräume befanden sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im alten Synagogengebäude. Im 1874 eingeweihten Neubau lagen im Erdgeschoss zwei etwa 13 qm große Räume, die für den Religionslehrer und den Unterricht genutzt wurden.42

Friedhof

Die Toten aus Groß-Umstadt wurden auf dem etwa zehn Kilometer entfernten jüdischen Friedhof in Dieburg begraben, auf dem Juden aus zahlreichen Orten der Region bestattet sind. Ab 1651/1652 sind Abgaben für Beisetzungen in den Dieburger Stadtrechnungen genannt.43 Der älteste erhaltene Grabstein für einen Umstädter Juden wurde für den 1715 verstorbenen Samuel, Sohn des Uri Schraga, gesetzt, der letzte für eine Umstädter Jüdin, die 1935 verstorbene Sarah Stein.

In der Gemeinde bestanden 1914 eine Männer- und eine Frauen-Chewra.44

Nachweise

Fußnoten

  1. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 225.
  2. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 225-226.
  3. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 228.
  4. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 226.
  5. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 227-228.
  6. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 236; Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes, Jg. 14, 1899, Nachtrag, S. 64.
  7. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 236-239.
  8. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 239-240.
  9. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 240, 242.
  10. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 244-245; Bund deutscher PfadfinderInnen e. V., Groß-Umstadt, o. J., Verzeichnis.
  11. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 228, 233.
  12. Bürgermeister Johannes Ittmann an den Landrat, 16. Juli 1824, in: StadtA Groß-Umstadt, XIII/5/4, Nr. 9.
  13. Bericht des Bürgermeisters Johannes Ittmann an den Landrat, 9. September 1826, in: StadtA Groß-Umstadt, XIII/5/4, Nr. 9.
  14. Bericht des Bürgermeisters Johannes Ittmann an den Landrat, 9. September 1826, in: StadtA Groß-Umstadt, XIII/5/4, Nr. 9.
  15. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 233-234.
  16. StadtA Groß-Umstadt, XIII/5/4, Nr. 9.
  17. Der Israelit, Nr. 5, 30.1.1867, S. 83.
  18. Odenwälder Bote, 23.5.1874.
  19. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 233.
  20. Mündliche Auskunft von Rabbiner Ernst Stein, einem Enkel des Groß-Umstädter Religionslehrers Levi Stein.
  21. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 234-235.
  22. Arthur Rapp an die Jewish Restitution Successor Organization, 1958, in: JMF, NL Paul Arnsberg, Nr. 228; Skizze Rapps zur Synagoge in: HHStAW, 518, Nr. 1480.
  23. HHStAW, 518, Nr. 1480.
  24. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 239.
  25. Verein zur Bewahrung der Groß-Umstädter Synagoge, 1988, Groß-Umstadt, S. 116-118; Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 241.
  26. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 240-241.
  27. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 241-242.
  28. Kaufvertrag vom 29. Dezember 1938 und Zustimmungserklärung vom 12. Januar 1939, in: StadtA Groß-Umstadt, XIII; Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 242.
  29. Schreiben vom 17. November 1941, in: HStAD, G 15 Dieburg, Nr. L 18.
  30. HHStAW, 518, Nr. 1480.
  31. Ausführlich zu den Auseinandersetzungen: Verein zur Bewahrung der Groß-Umstädter Synagoge, 1988, Groß-Umstadt, S. 150-161; StadtA Groß-Umstadt, XIII/3, Nr. 5, Nr. 6, Nr. 7, Nr. 8, Nr. 9; XIII/4, Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3.
  32. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 243.
  33. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 243-244.
  34. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 244.
  35. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 233.
  36. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 233, 236, 249.
  37. Baupläne, in: StadtA Groß-Umstadt, XIII/5/4, Nr. 9.
  38. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 233, 236.
  39. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 237.
  40. Vgl. u. a. Der Israelit, Nr. 15, 23.4.1879, S. 448.
  41. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 238-239; 249.
  42. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 234.
  43. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 226.
  44. Berger-Dittscheid, 2025, Groß-Umstadt, S. 239.

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Quellen

Literatur

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Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, CC BY-SA 4.0
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„Groß-Umstadt“, in: Synagogen in Hessen <https://lagis.hessen.de/de/orte/synagogen-in-hessen/alle-eintraege/85_gross-umstadt> (aufgerufen am 25.11.2025)

Kurzform der URL für Druckwerke

https://lagis.hessen.de/resolve/de/syn/85

Groß-Umstadt, ehemalige Synagoge, Untere Marktstraße 38 (um 1970)Groß-Umstadt, ehemalige Synagoge, Untere Marktstraße 38 (um 1970)Der Standort der Synagoge von Groß-Umstadt im modernen Orthofoto (Bildmitte)