Neu-Isenburg

Neu-Isenburg im modernen Orthofoto
Basisdaten
Juden belegt seit
1. Viertel des 19. Jahrhunderts
Lage
63263 Neu-Isenburg, Zeppelinstraße 10
erhalten
ja
Gedenktafel vorhanden
nein
Synagogen-Gedenkbuch Hessen
Geschichte
Anm.: Diesem Beitrag liegen Passagen zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in Neu-Isenburg im Artikel Sprendlingen des "Synagogengedenkbuchs Hessen" zugrunde.1
Jüdinnen und Juden in Neu-Isenburg werden in den Quellen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts greifbar. Ende der 1820er-Jahre lebten sechs jüdische Einwohner im Ort.2 Geburts-, Sterbe- und Heiratsregister sind ab der Mitte der 1830er-Jahre überliefert.3 Waren sie zunächst der jüdischen Gemeinde in Offenbach am Main verbunden, gehörten die zunächst wenigen jüdischen Einwohner Neu-Isenburgs spätestens mit dem Bau der Synagoge und der Anlage des jüdischen Friedhofs in Sprendlingen 1830/1831 zur dortigen jüdischen Gemeinde.4
Heim „Isenburg“ des Jüdischen Frauenbunds
Im Jahr 1907 gründete Bertha Pappenheim das Heim „Isenburg“ des Jüdischen Frauenbunds. Aufnahme fanden dort jüdische Mädchen, unverheiratet Schwangere und alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern. Bis zur Schließung des Heims in der Zeit des Nationalsozialismus im Jahr 1942 profitierten von der Einrichtung über 1.500 Frauen und Kinder.5 Dadurch stieg die Zahl der jüdischen Bewohner Neu-Isenburgs deutlich an, vor allem auch deshalb, weil viele staatenlose und ausländische jüdische Frauen und Kinder Unterkunft im Heim fanden. Anfang der 1930er-Jahre lebten 150 jüdische Einwohner im Ort.6 Waren sie über 20 Jahre alt und seit mindestens drei Monaten in Neu-Isenburg gemeldet, so konnten sie sich auch zur Wahl des Vorstands der zusammen mit Sprendlingen gebildeten jüdischen Gemeinde registrieren lassen. Zur Vorstandswahl 1922 waren 70 Wählerinnen und Wähler aus Neu-Isenburg und 58 aus Sprendlingen zugelassen.7
Das erste Heimgebäude befand sich in der Taunusstraße 9. Zwischen 1914 und 1918 wurde die Einrichtung zu einem Komplex mit vier Häusern erweitert: Im bisherigen Gebäude in der Taunusstraße 9 (Haus I) waren fortan Verwaltungsbüros, Wohnräume für Angestellte und die zentrale Küche untergebracht. In dem 1914 neu errichteten Haus II wurden schwangere Frauen sowie junge Mütter mit Kindern untergebracht. 1917 erwarb der Jüdische Frauenbund das Nachbarhaus in der Taunusstraße 7 (Haus III), wo erziehungsbedürftige und kriegstraumatisierte Schulkinder unterkamen. Schließlich stiftete Bertha Pappenheim selbst 1918 das Haus IV in der Zeppelinstraße 6, wo Praktikantinnen wohnten. Dieses Gebäude wurde 1928 um einen Anbau erweitert, in dem sich eine Kranken- und Isolierstation befand.8
In der Zeit des Nationalsozialismus gerieten auch die Neu-Isenburger Jüdinnen und Juden zunehmend unter Druck. Während des Pogroms im November 1938 wurde das Heim angegriffen. Mindestens ein Gebäude (Haus I) wurde in Brand gesetzt, bei weiteren Gebäuden Scheiben eingeschlagen und die Inneneinrichtung demoliert. Helene Krämer, die das Heim zwischen 1936 und ihrer Emigration 1941 leitete, berichtete dazu: „Die Barbaren kamen mit Pechfackeln, riefen ‚Öffnet, wir bringen Euch Fleisch‘, drangen in das überfüllte Haus, schrien ‚Juden heraus!‘, warfen die kostbaren Daumiers in den Garten, und keine fünf Minuten war das Haus leer. Der Anführer der Horde, der Ingenieur Schmidt, der im Heim die Lichtleitung gelegt hatte, umringte mich, bis er die Heimkasse hatte, den armen Mädchen wurden ihre Päckchen abgenommen, mit Mühe und Not durfte ich den Schulkindern Mäntel holen. Wir standen alle, Säuglinge, die wir in Körbchen hinaustrugen, Kleinkinder, Jugendliche und Angestellte, über eine Stunde in der kalten Winternacht im Garten bei dem grausigen Anblick des Brandes des Hauses und dem Knistern der alten Bäume. Plötzlich erlag die elektrische Leitung, wir standen in finsterer Nacht, das Geschrei und Jammern der Kinder war so entsetzlich und herzzerreißend, dass sogar die Barbaren etwas Mitleid hatten und uns erlaubten, in ein Haus zu gehen […]. Frau Nassauer blieb die ganze Nacht bei mir, nachdem wir die ganze Belegschaft, ungefähr 100 Personen, in dem einen Haus unterbrachten. Einige Mädchen erlitten Herzanfälle, sodass wir gezwungen waren, einen christlichen Arzt zu rufen, der mit Kerzenlicht sich durch die Trümmer durcharbeiten musste. Die Feuerwehr kam erst sehr spät. Das Heim brannte und glimmte noch am nächsten Tag.“9
Trotz der Zerstörungen konnte die Arbeit zunächst fortgesetzt werden. Erst zu Beginn des Jahres 1942 wurden die Bewohner zwangsweise an andere Einrichtungen überstellt, mit dem Ziel, das Heim zu schließen.10 Viele ehemalige Bewohnerinnen und -bewohner kamen während der Shoah um.11
1996 wurde durch die Stadt Neu-Isenburg eine Gedenkstätte im ehemaligen Heim des Jüdischen Frauenbundes eröffnet, die dem Leben und Werk Bertha Pappenheims gewidmet ist.12
An ehemalige Neu-Isenburger Jüdinnen und Juden, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden, erinnern seit 2009 Stolpersteine und eine den Frauen und Kindern des Heims „Isenburg“ gewidmete Stolperschwelle.
Statistik
- 1828 6 Personen
- 1871 17 Personen
- 1900 40 Personen
- 1910 73 Personen
- 1925 152 Personen
Quellenangabe Statistik
Gargova/Gempp-Friedrich, 2025, Sprendlingen, S. 600.
Betsaal / Synagoge
In einem der Häuser des Heims „Isenburg“ wurden in einem dafür hergerichteten Raum an den hohen jüdischen Feiertagen eigene Gottesdienste abgehalten.13 Ansonsten besuchten die jüdischen Einwohner Neu-Isenburgs die Synagoge in Sprendlingen.14
Weitere Einrichtungen
Mikwe
Vermutlich nutzten die in Neu-Isenburg lebenden Jüdinnen die Mikwe in Sprendlingen.
Schule
Mitte der 1870er-Jahre erhielten 17 jüdische Schulkinder aus Sprendlingen und Neu-Isenburg Unterricht durch einen von der jüdischen Gemeinde angestellten Lehrer.15 1911 erteilte der Lehrer Leopold Kaufmann aus Sprendlingen den noch vier Neu-Isenburger Kindern Religionsunterricht. 1913 fungierte der Sprendlinger Kantor und Schächter Hirsch Quiat (Hermann Kwiat) als Religionslehrer. Mitte der 1920er-Jahre war wiederum Kaufmann für den Religionsunterricht im Mädchenheim zuständig, während ein Lehrer Heymann und ein Fräulein Nathan die jüdischen Kinder an der örtlichen Bürgerschule Religion unterrichteten.16
Friedhof
Die Neu-Isenburger Jüdinnen und Juden wurden seit dem 19. Jahrhundert auf dem jüdischen Friedhof in Sprendlingen beigesetzt.
Nachweise
Fußnoten
- Gargova/Gempp-Friedrich, 2025, Sprendlingen. ↑
- StadtA Neu-Isenburg, C/2/2, Statistik/Miszellen; Wagner, 1829, Beschreibung, S. 166. ↑
- HHStAW, 365, Nr. 633; HStAD, C 12, Nr. 126/1; Nr. 126/2; Nr. 126/3; Nr. 126/4. ↑
- Baumbusch, 1983, Juden, S. 6; Großherzoglich-Hessisches Regierungsblatt, Nr. 47, 9.6.1832, S. 315. ↑
- Heubach, 1986, Heim. ↑
- Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland, 1932/1933, S. 388. ↑
- StadtA Dreieich, Sprendlingen, XIII/1/1, Nr. 8; Nr. 9. ↑
- Das Heim, in: Gedenkbuch Neu-Isenburg, online unter: https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/das_heim/ (Stand: 13.11.2025). ↑
- Zit. in Neu-Isenburg, in: Alemannia Judacia, online unter: https://www.alemannia-judaica.de/neu-isenburg_heim.htm (Stand: 13.11.2025). ↑
- CAHJP, JRSO-Hes, Nr. 121. ↑
- Siehe Alphabetisches Namensverzeichnis, in: Gedenkbuch Neu-Isenburg, online unter: https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/namen/namensverzeichnis (Stand: 13.11.2025). ↑
- Die Gedenkstätte, in: Gedenkbuch Neu-Isenburg, online unter: https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/das_heim/gedenkstaette (Stand: 13.11.2025). ↑
- Fogel, 1997, 500 Jahre, S. 20; Heubach, 1986, Heim, S. 51. ↑
- Arnsberg, 1971, Gemeinden, S. 266, geht von Separatgottesdiensten aus. Dafür fanden sich, von den Gottesdiensten aus besonderen Anlässen abgesehen, keine Hinweise. ↑
Weblinks
Quellen
- ** Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP)
- CAHJP, JRSO-Hes, Nr. 121.
- ** Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW)
- HHStAW, 365, Nr. 633.
- ** Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD)
- HStAD, C 12, Nr. 126/1.
- HStAD, C 12, Nr. 126/2.
- HStAD, C 12, Nr. 126/3.
- HStAD, C 12, Nr. 126/4.
- ** Stadtarchiv Dreieich (StadtA Dreieich)
- StadtA Dreieich, Sprendlingen, XIII/1/1, Nr. 8.
- StadtA Dreieich, Sprendlingen, XIII/1/1, Nr. 9.
- ** Stadtarchiv Neu-Isenburg (StadtA Neu-Isenburg)
- StadtA Neu-Isenburg, C/2/2, Statistik/Miszellen.
Literatur
- Arnsberg, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang. Untergang. Neubeginn, Bd. 2, Frankfurt am Main 1971, S. 28-31.
- Baumbusch, Arno, Die Sprendlinger Juden, Sprendlingen 1983.
- Engelbert, Hermann, Statistik des Judenthums im Deutschen Reiche ausschließlich Preußens und in der Schweiz, Frankfurt am Main 1875.
- Fogel, Heidi, 500 Jahre jüdisches Leben in der Dreieichregion von 1421 bis zum Novemberpogrom 1938, Neu-Isenburg 1997.
- Gargova, Fani/Gempp-Friedrich, Tilmann, Sprendlingen (Stadt Dreieich). Mit Neu-Isenburg, in: Wiese, Christian, et al. (Hg.), Zerbrechliche Nachbarschaft. Gedenkbuch der Synagogen und jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1/1, Berlin/Boston 2025, S. 591-601.
- Heubach, Helga, Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg, Taunusstraße 9, 1907 bis 1942, Neu-Isenburg 1986.
- Wagner, Georg Wilhelm Justin, Statistisch-topographisch-historische Beschreibung des Großherzogthums Hessen, Bd. 1, Darmstadt 1829.
Indizes
Siehe auch
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Empfohlene Zitierweise
„Neu-Isenburg“, in: Synagogen in Hessen <https://lagis.hessen.de/de/orte/synagogen-in-hessen/alle-eintraege/793_neu-isenburg> (aufgerufen am 26.11.2025)
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