Sickenhofen

Sickenhofen: Straßenansicht des zum Wohnhaus umgebauten ehemaligen Synagogengebäudes (1986)
Basisdaten
Juden belegt seit
1605
Lage
64832 Babenhausen, Ortsteil Sickenhofen, Wacholdergasse 3
erhalten
ja
Gedenktafel vorhanden
nein
Synagogen-Gedenkbuch Hessen
Geschichte
Sickenhofen war wie Hergershausen ab 1458 Teil der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, die es von 1426 bis 1799 als Lehen den Herren von Groschlag überantworteten. In Gerichtsakten werden 1605 Abraham ben Elieser in einem Beleidigungsprozess und 1611 der hanau-lichtenbergische Schutzjude Hayum im Kontext des Verbreitens falscher Münzen als erste Juden in Sickenhofen genannt. Nach der Zeit des Dreißigjährigen Krieges finden sich 1660, 1670 (Samuel), 1701 (Moses) und 1711 (Jessel) wieder Belege für jüdische Einwohner im Dorf. Zudem wurden zwischen 1712 und 1715 drei Juden aus dem Ort, Josef Joel, Moses und Aaron, ausgewiesen.1 1732/1733 lebten dann vier Groschlagsche Schutzjuden und deren Familien in Sickenhofen. 1756 mussten bereits neun Schutzjuden Beisassengelder entrichten. Nach dem Aussterben des Geschlechts der von Groschlag 1799 übte der Landgraf von Hessen-Kassel die Herrschaft über das Amt direkt aus. Dass 1792 elf jüdische Haushalte in Sickenhofen erfasst waren, eröffnete möglicherweise bereits die Gelegenheit, Gottesdienste abzuhalten.2
Im 19. Jahrhundert stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden stark an und erreichte 1855 mit 86 ihren Höchststand. Das entsprach einem Bevölkerungsanteil von rund 16 Prozent. Der Ort gehörte seit 1816 zum Großherzogtum Hessen. Zunächst blieb jedoch das Rabbinat in Hanau für die jüdische Gemeinde zuständig. 1826 erfolgte die Zuordnung zum Rabbinat in Offenbach. Als Namen der jüdischen Familien im 19. Jahrhundert waren unter anderem Frank, Fuld, Oppenheimer, Rothschild, Ullmann und Kahn bekannt. Sie waren als Metzger tätig, handelten mit Vieh, Federn und Geflügel. Später betrieben sie auch Handel mit Krämerei- und Spezereiwaren. Isaak Fuld war Uhrmacher.3
Als Vorsteher der jüdischen Gemeinde wirkte über viele Jahre Abraham Fuld. Um 1842 versah er das Amt zusammen mit Jeidel Frank und Manasse Löw Fuld. Die Aufnahme als Ortsbürger war in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich, wie die langwierigen Fälle des Galanteriewarenhändlers Joseph (Jesel) Ullmann und des Leder- und Viehhändlers Götz Rothschild zwischen 1859 und 1870 zeigen. Zwar waren ihre Bemühungen letztlich erfolgreich, doch sahen sich beide zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt, die auch von antijüdischen Stereotypen getragen waren. Um 1900 warben zudem regionale antisemitische Parteien äußerst erfolgreich um die Stimmen der Sickenhöfer Wählerschaft. Auch vor diesem Hintergrund verließen offenbar zahlreiche Jüdinnen und Juden den Ort. Teilweise wanderten sie in die Vereinigten Staaten aus.4
1905 lebten in Sickenhofen noch 28 Jüdinnen und Juden, die sechs Prozent der Einwohnerschaft ausmachten. Ihre Zahl halbierte sich bis 1925 auf 14 und lag 1933 noch bei acht.5 Zwei von elf Gemeindemitgliedern, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, waren gefallen: 1916 Siegmund Kahn und 1917 Robert Meyer Frank. Friedrich Julius Frank war Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten.6
1932 lag die Leitung der jüdischen Gemeinde in den Händen des Vorsitzenden Gustav Kahn. Hatte sie noch Mitte der 1920er-Jahre zum Rabbinat in Offenbach gehört, war sie nunmehr dem orthodoxen Rabbiner in Darmstadt zugeordnet. Im Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege wurde sie im Gegensatz zu anderen Orten als „Israelitische Religionsgemeinde“ oder „Jüdische Gemeinde“ bezeichnet.
Als die NSDAP ab Januar 1933 ihre antisemitische Programmatik nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler auch in den ländlichen Gemeinden durchzusetzen begann, waren vermutlich auch die letzten beiden jüdischen Familien in Sickenhofen, die des Viehhändlers Gustav Kahn und des Metzgers Friedrich Julius Frank, davon betroffen. Allerdings liegen über konkrete Verfolgungsmaßnahmen nur wenige Informationen vor. Zu Übergriffen in Sickenhofen kam es nachweislich am 10. November 1938 – entgegen anderslautender Behauptungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Gustav Kahns Haus in der heutigen Hergershäuser Straße 15 wurde attackiert, er selbst auch körperlich misshandelt. Zeitweise befand er sich in „Schutzhaft“ im Rathaus Babenhausen. Es ist davon auszugehen, dass die Familie Frank in ähnlicher Weise betroffen war. Auch Friedrich Julius Frank wurde am 10. November festgenommen. Er wurde ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. In den folgenden Monaten waren beide Familien gezwungen, ihre Immobilien zu veräußern und ihre Geschäftstätigkeit zu beenden. Während Gustav und Hilde Kahn mit ihren beiden Söhnen Walter und Fritz nach dem Umzug nach Frankfurt am Main 1939 im Jahr 1941 noch die Auswanderung nach New York gelang, wurden Friedrich Julius und Flora Frank zusammen mit ihren Söhnen Erich und Kurt am 20. März 1942 nach Darmstadt gebracht. Von dort wurden sie ins Ghetto Piaski verschleppt, wo sich ihre Spur verliert. Mindestens zehn weitere Jüdinnen und Juden, die in Sickenhofen geboren worden waren, wurden Opfer der Shoah.7
Die am 9. November 1988 in Babenhausen eingeweihte Gedenkstele des Künstlers Norbert Jäger erinnert auch an die verfolgten Jüdinnen und Juden aus Sickenhofen. 2014 verlegte Gunter Demnig acht Stolpersteine für die Familien Kahn und Frank im Ort.8
Statistik
- 1732/33 4 Schutzjuden
- 1734/35 5 Schutzjuden
- 1756 9 Schutzjuden
- 1762 8 Schutzjuden
- 1792/93 11 Familien
- 1815 10 Familien
- 1830 71 Personen
- 1853 91 Personen
- 1855 82 Personen
- 1880 79 Personen
- 1892/93 11 Familien
- 1905 33 Personen
- 1910 23 Personen
- 1911 27 Personen
- 1913 23 Personen
- 1925 14 Personen
- 16. Januar 1933 8 Personen
- 1. Januar 1936 8 Personen
- 1940/41 4 Personen
Quellenangabe Statistik
Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 451.
Betsaal / Synagoge
Betraum, vermutlich Ernst-Ludwig-Straße 16
Bis ins 19. Jahrhundert hinein finden sich bislang keine Hinweise auf die Existenz eines Betraums in Sickenhofen. In einer Zusammenstellung von Einkünften sind 1800 nur für das nahegelegene Hergershausen Abgaben für die dortige Synagoge aufgeführt – nichts dergleichen aber für Sickenhofen. Tatsächlich bildeten noch Anfang der 1830er-Jahre die Sickenhöfer zusammen mit den Jüdinnen und Juden in Hergershausen eine Synagogengemeinde, das heißt, sie nutzten gemeinsam die Synagoge in Hergershausen. Dies ergibt sich aus einer Klage der Sickenhöfer gegen die Hergershäuser jüdische Gemeinde. Sie wollte 1833/1834 aus dem Gemeindeverband austreten und forderte ihren Eigentumsanteil an der Synagoge in Hergershausen zurück. Allerdings wies das Gericht die Klage ab, da ein Miteigentum nicht erwiesen sei. Möglicherweise hielten die Juden in Sickenhofen zu dieser Zeit bereits eigene Gottesdienste ab. 1828 hatte Abraham Fuld für die jüdische Gemeinde ein Haus von Georg Krautwurst in der heutigen Ernst-Ludwig-Straße 16 erworben, das für diesen Zweck genutzt worden sein dürfte. Im Mai 1837 ist mit Bernhard David zudem erstmals ein „Judenvorsinger“ bei der jüdischen Gemeinde angestellt, der zuvor in Hergershausen seinen Dienst verrichtet hatte. Das alte Gemeindehaus in der heutigen Ernst-Ludwig-Straße 16 wurde 1843, nach der Weihe der neuen Synagoge, für 100 fl. an Israel Kahn verkauft.9
Die Synagoge von 1841/1842, Wacholderstraße 3
Spätestens Anfang der 1840er-Jahre entschied sich die jüdische Gemeinde, eine Synagoge zu errichten. Am 12. Mai 1841 ersteigerte Vorsteher Abraham Fuld für 502 fl. Abbruchmaterial des alten Pfarrhauses der evangelischen Kirchgemeinde, um damit den Grundstock für den Synagogenbau zu legen. In der „Arbeits-Versteigerung“, die der Offenbacher Kreisbaumeister Karl Eickemeyer am 26. September 1841 öffentlich ausschrieb, ist ausdrücklich von der „Erbauung einer neuen Synagoge“ die Rede. Der Kostenvoranschlag lag bei rund 1.494 fl. Die Arbeiten sollten „im Accord“ an den Wenigstnehmenden vergeben werden.10 Die Baukosten beliefen sich schlussendlich auf etwa 2.100 fl. Die Weihe erfolgte wohl noch vor den jüdischen Feiertagen im Herbst 1842. Die Thorarollen wurden im feierlichen Umzug aus dem bisherigen Betraum in die neue Synagoge überführt, wo Religionslehrer F. Vorhaus und der Lehrer Seitling aus Hergershausen sprachen.11 Der Bau wurde nach Plänen des Geometers Georg Fink 1842 auf dem Grundstück in der heutigen Wacholderstraße 3, das der jüdischen Gemeinde gehörte, als Massivbau ohne Fundament erstellt. Das zweigeschossige Gebäude mit Satteldach ist heute noch erhalten. Es steht traufseitig zur Straße und ist 11,35 m lang sowie 8,77 m breit. Der Bau ist vollständig unterkellert. Im Westteil des Gebäudes befand sich das Gemeindehaus mit Mikwe, Schulzimmer und Lehrerwohnung. Über diesen Gebäudeteil erfolgte von der Straße aus auch der Zugang zum Betsaal, der geschossübergreifend den Ostteil des Hauses einnahm. In der Grundfläche maß er 5,78 m mal 8,15 m und war nach Osten ausgerichtet. Der Thoraschrein aus Holz im neogotischen Stil befand sich an der Ostwand. Rechts neben dem Schrein befand sich die Tafel mit dem Fürstengebet. Die hölzerne Bima war in der Raummitte aufgestellt. Die 36 Männersitzplätze verteilten sich auf je sechs Bänke seitlich des Mittelgangs. Im Obergeschoss befand sich eine an der westlichen Saalwand installierte und von zwei schmiedeeisernen Säulen getragene Frauenempore mit möglicherweise etwa 20 Sitzplätzen und Holzbrüstung. Sie reichte wohl bis ins Obergeschoss des angeschlossenen Gemeindehauses hinein. Zum Inventar zählten unter anderem vier geschmiedete Kronleuchter und zwei Wandleuchter. Nach außen hin glich das Synagogengebäude eher einem Wohnhaus, bei dem auf die Verwendung besonderer Symbole, wie sie bei anderen Synagogen im Kreis Dieburg durchaus üblich waren, verzichtet wurde. Damit glich sie dem in dieser Zeit ebenfalls von Georg Fink entworfenen Neubau des evangelischen Pfarrhauses.12
Nicht nur der Synagogenbau, sondern auch die Tatsache, dass im Umfeld des Gotteshauses viele jüdische Familien wohnten, führte dazu, dass die Wacholdergasse um 1871 auch als „Judengasse“ bezeichnet wurde. Offenbar wurde im Zuge des Baus das Areal mit einem Draht umspannt, der den Eruv (Schabbatgrenze) markierte, jenen Bereich, in dem das Tragen von Dingen am Schabbat und den jüdischen Feiertagen erlaubt war.13
Wie lange die jüdische Gemeinde in Sickenhofen ihre Synagoge regelmäßig nutzte, ist nicht gesichert. Um 1905 wurden Gottesdienste an Schabbat und den jüdischen Feiertagen, also nicht mehr täglich abgehalten.14 Der Sickenhöfer Bürgermeister Philipp Spiehl behauptete 1935, dass bereits seit 1918 keine Gottesdienste mehr stattgefunden hätten. Zudem habe die jüdische Gemeinde im Gebäude eine Wohnung vermietet – wohl im Gebäudeteil des Gemeindehauses.15 Vermutlich fanden nur noch zu besonderen Anlässen und Feiertagen Gottesdienste in der Synagoge statt. Im Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege wurde sie 1932/1933 noch aufgeführt, doch lebten damals nur noch acht Jüdinnen und Juden im Ort, so dass aus eigener Kraft kein Minjan mehr möglich war.
Am 4. April 1935 fragte der seit 1930 amtierende Bürgermeister Spiehl beim Kreisamt in Dieburg nach, ob eine Enteignung der nicht mehr genutzten Synagoge möglich sei, da die Verhandlungen um einen Ankauf des Gebäudes durch die politische Gemeinde mit Gustav Kahn und Friedrich Julius Frank an der Höhe des Kaufpreises gescheitert seien. Eine Anmietung lehnte er ab. Man habe zudem einen der beiden Schulsäle der Hitlerjugend für Heimabende zur Verfügung gestellt. Auf Dauer sei dieser Raum jedoch nicht ausreichend. Vielmehr könne die leerstehende Synagoge entsprechend umgebaut werden. Zwar untersagte das Kreisamt eine Enteignung, doch setzten Spiehl, der Gemeindebeigeordnete Georg Friedrich Knörr und der NSDAP-Kreisvorsitzende Franz Burkart Kahn und Frank massiv unter Druck. Beide waren letztlich gezwungen, das Gebäude an die politische Gemeinde zu verkaufen. In der verfassten Niederschrift der Kaufvereinbarung vom 15. April 1935 wurde vermerkt, dass „die hier in der Sackgasse stehende z. Zt. unbenutzte und in baulichem Zustande ziemlich schlechte Synagoge zum Preis von 1800 RM“ den Besitzer wechselte. Der Kaufpreis sollte in sechs gleichen Jahreszielen von je 300 RM ohne Zinsen bis zum 1. Oktober 1940 beglichen werden. Der offizielle, durch den Notar Hermann Laube in Seligenstadt besiegelte Kaufvertrag datiert vom 1. August 1935. Nachdem das Kreisamt in Dieburg bereits am 4. Mai 1935 sein Einverständnis zur Kaufvereinbarung erteilt hatte, wurde der Ankauf der 225 qm großen Hofreite (Flur I, Nr. 308) offiziell am 29. Oktober 1935 genehmigt. Nach den Pogromen von 1938 setzte die Ortsgemeinde dann allerdings die Zahlung der Raten aus.16
Am 24. November 1935 teilte Spiehl dem Hochbauamt in Dieburg mit, dass in der früheren Synagoge durch Umbau zwei Wohnungen eingerichtet werden sollten, die dringend erforderlich seien. Das Hochbauamt sollte Bauleitung und -ausführung übernehmen. Im Planungsvorbescheid (Nr. 8) vom 19. Dezember 1935 teilte das Hochbauamt schließlich mit, dass für den Umbau zu nunmehr fünf Wohnungen ein Reichszuschuss in Höhe von 5.000 RM bei Gesamtkosten von 10.650 RM zu erwarten sei. Die Ausführung der Arbeiten sollte die Gemeindeverwaltung bis zum 31. März 1936 anzeigen. Bei den Umbauarbeiten Anfang 1936 wurden das Treppenhaus, alle Trennwände und Zwischendecken sowie die Mikwe entfernt. Im Erdgeschoss entstand eine bis zum Keller abgesenkte Turnhalle. Zudem wurden in das Gebäude über drei Geschosse die besagten fünf Notwohnungen eingebaut. Während des Zweiten Weltkriegs diente die Turnhalle zeitweise der Unterbringung von Kriegsgefangenen.17
Fünf Jahre nach Kriegsende, im Mai 1950, informierte das Amt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung in Darmstadt die politische Gemeinde Sickenhofen über den erfolgten Rückerstattungsantrag der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) für das ehemalige Synagogengebäude. Bis zur Beendigung des Verfahrens, das in mehrere Prozesse mündete, sollte es fünf Jahre dauern. Das lag auch an der Gemeindeverwaltung, die sich zur Sache zunächst nicht äußerte. Darüber beschwerte sich die JRSO am 3. Oktober 1950 und bestritt wenig später auch, dass sich das Gebäude beim Erwerb durch die Sickenhöfer Gemeinde in einem beklagenswerten Zustand befunden habe. Zudem seien die letzten Raten des Kaufpreises, die am 1. Oktober 1939 und 1. Oktober 1940 fällig gewesen seien, aufgrund der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 nicht mehr zur Auszahlung gelangt. Als Ausgleichszahlung forderte die JRSO 4.000 DM. Sie verwies dabei auch auf Gustav Kahn, der am 25. Februar 1949 bestätigt hatte, dass die Synagoge „während der Nazizeit der Gemeinde Sickenhofen unter Zwang verkauft“ wurde. Zudem habe der Verkaufspreis nur bei 1.800 RM gelegen, während allein der Einheitswert mit 2.300 RM deutlich höher gelegen habe. Der von der politischen Gemeinde mit der Anfechtung der Rückerstattungsansprüche der JRSO beauftragte Rechtsanwalt verstieg sich im weiteren Verlauf sogar zu der wahrheitswidrigen Feststellung: „Hier in Sickenhofen wurde auch während der Nazizeit kein Jude bedrängt oder verdrängt, selbst an dem bewussten Tag der Judenaktion wurde hier keiner Familie auch nur ein Haar gekrümmt, das jüdische Eigentum blieb unberührt. Alle Verkäufe hier sind in bestem Einvernehmen beiderseits durchgeführt worden. Die Judenschule war schon Mitte der zwanziger Jahre nicht mehr in Betrieb, die jüdische Gemeinde hatte seinerzeit schon eine Wohnung in der Schul eingerichtet und eine Familie als Hauswart dort eingesetzt.“ Zudem seien die „beiden jüdischen Gemeindeglieder Frank und Kahn […] bei sämtlichen Aufzügen sogar mitmarschiert, ihnen ist niemals ein Haar gekrümmt worden.“ Nach gescheiterter Güteverhandlung im Dezember 1950 lag der Fall im Januar 1951der Wiedergutmachungskammer am Landgericht Darmstadt vor. Dabei wurde die Gemeindeverwaltung Sickenhofen aufgefordert, über Mieterträge, Erhaltungskosten und weitere Ausgaben Auskunft zu geben. Dem kam diese allerdings erst nach nochmaliger Mahnung nach. Bis zuletzt bot sie mit Verweis auf die Umbaukosten lediglich 1.000 DM als Entschädigungszahlung an. Schließlich verzichtete sie 1954 auf ihr Vorkaufsrecht. Das Gebäude ging für 4.500 DM in Privatbesitz über und wechselte noch mehrmals den Besitzer. Es dient bis heute privaten Wohnzwecken. Lediglich kleinere Umbauten wurden noch vorgenommen. Auch der ehemals als Turnhalle genutzte Raum war längst für Wohnzwecke angepasst worden.18
Weitere Einrichtungen
1884 bestand in Sickenhofen ein Israelitischer Krankenverein, der in diesem Jahr der jüdischen Gemeinde einen Geldbetrag von 2.100 RM stiftete.19
Mikwe
Schule
Eine Klage zufolge war 1831 kein Religionslehrer in Sickenhofen angestellt. Erst 1841 wird mit F. Vorhaus ein Religionslehrer der jüdischen Gemeinde erwähnt. Mit der Weihe der Synagoge von 1842 waren schließlich eine Lehrerwohnung und ein Unterrichtsraum im angeschlossenen Gemeindehaus (Wacholderstraße 3) vorhanden. In den 1860er-Jahren war dann Benjamin Aaron Bonnheim als Lehrer zeitweise angestellt.22 Anfang der 1930er-Jahre erhielten noch zwei jüdische Kinder Religionsunterricht, den der Lehrer Sally Katz aus Babenhausen erteilte.23
Friedhof
Bis zur Einrichtung ihres eigenen jüdischen Friedhofs bestatteten die Jüdinnen und Juden aus Sickenhofen ihre Toten auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Dieburg. Stadtrechnungen belegen für 1674/1675 dort die Beisetzung von zwei jüdischen Kindern.24
Vermutlich in den 1730er-Jahren, als die Zahl der Jüdinnen und Juden in Sickenhofen weiter angestiegen war, wurde ein eigener jüdischer Friedhof östlich des Ortes angelegt. Erstmals erhob die Ortsgemeinde 1734/1735 Leichengebühren für Beisetzungen. Der seit 1866, als das Areal erweitert wurde, von einer Ziegelmauer umgebene Friedhof hat aktuell eine Fläche von 2.048 qm. Hier wurden auch die verstorbenen Jüdinnen und Juden aus dem benachbarten Hergershausen beigesetzt. Die ältesten Grabsteine datieren auf die Jahre 1741 und 1743. Namentlich identifizierbar sind erst die Gräber einer Tochter und der Ehefrau des Koppel, die 1762 beziehungsweise 1764 starben. Insgesamt sind bislang139 Grabsteine auf dem Friedhof bekannt, die in zwei Gruppen nördlich und – hier fanden die Beisetzungen zwischen 1906 und 1936 statt – südlich des Weges liegen. Der Friedhof wurde mehrfach geschändet, besonders in der Zeit des Nationalsozialismus. 1945 war er mit Unterstützung der amerikanischen Militärregierung zunächst durch ehemalige NSDAP-Mitglieder wieder in einen würdigen Zustand gebracht und die Umfassungsmauer erneuert worden. 1956 und 1965 stürzten Kinder und Jugendliche viele Grabsteine um. Im März 1983 wurde die Totenruhe gestört, als Grabstätten ausgehoben wurden. Auch im August 1990 wurden 47 Steine umgeworfen und mit antisemitischen Parolen beschmiert. 2019 wurden nochmals Hakenkreuzschmierereien auf dem Friedhof entdeckt.25
Nachweise
Fußnoten
- Arnsberg, 1972, Gemeinden; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 441. ↑
- Lötzsch, 1987, Friedhof; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 441-442. ↑
- Lötzsch, 1987, Friedhof; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 442. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 443, 447. ↑
- Lötzsch, 1997, Friedhof. ↑
- Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, 1932, Gefallenen, S. 355; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 446-447. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 447, 449. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 451. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 443-444. ↑
- Wochenblatt für die Stadt und den Kreis Offenbach, Nr. 40, 1.10.1941, S. 3. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 444. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 444-445. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 443-444. ↑
- Ruppin, 1909, Juden, S. 83. ↑
- StadtA Babenhausen, Mappe „Judenschule“; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 447. ↑
- StadtA Babenhausen, Mappe „Judenschule“; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 447. ↑
- StadtA Babenhausen, Mappe „Judenschule“; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 449-450. ↑
- StadtA Babenhausen, Mappe „Judenschule“; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 450. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 444. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 444. ↑
- StadtA Babenhausen, Sickenhofen, Mappe Judenschule Wacholdergasse ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 443. ↑
- Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 447. ↑
- Franz/Wiesner, 2009, Friedhof, S. 89. ↑
- Lötzsch, 1987, Friedhof; Lötzsch/Wittenberger, 1988, Juden von Babenhausen; Berger-Dittscheid/Treue, 2025, Sickenhofen, S. 450. ↑
Weblinks
Quellen
- Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW)
- HHStAW, 503, Nr. 7381: Entschädigungsansprüche der jüdischen Gemeinden im Regierungsbezirk Darmstadt. Bd. 4: Synagoge und jüdische Schule in Darmstadt, (1932-1938) 1960-1962.
- HHStAW, 518, Nr. 1239: Entschädigungsakte Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen (enth. Sickenhofen), 1954, 1961.
- Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD)
- HStAD, C 12, Nr. 252/1: Judenmatrikel Sickenhofen: Geburten, 1823-1837.
- HStAD, C 12, Nr. 252/2: Judenmatrikel Sickenhofen: Geburten, 1837-1876, 1980.
- HStAD, C 12, Nr. 252/3: Judenmatrikel Sickenhofen: Heiraten, 1824-1837.
- HStAD, C 12, Nr. 252/4: Judenmatrikel Sickenhofen: Heiraten, 1837-1876, 1938, 1953.
- HStAD, C 12, Nr. 252/5: Judenmatrikel Sickenhofen: Sterbefälle, 1823-1837.
- HStAD, C 12, Nr. 252/6: Judenmatrikel Sickenhofen: Sterbefälle, 1837-1876.
- Stadtarchiv Babenhausen (StadtA Babenhausen)
- StadtA Babenhausen, Sickenhofen, Mappe Judenschule Wacholdergasse.
Literatur
- Alicke, Klaus-Dieter, Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Gütersloh 2008.
- Altaras, Thea, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, 2. Aufl., Königstein im Taunus 2007, S. 280-281.
- Arnsberg, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang. Untergang. Neubeginn, Bd. 2, Frankfurt am Main 1971, S. 252-254.
- Franz, Eckhart G./Wiesner, Christa, Der jüdische Friedhof in Dieburg, Wiesbaden 2009.
- Lange, Thomas (Hg.), L´chajim. Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, Reinheim 1997.
- Lötzsch, Karin, Namenslisten aller ab 1823 urkundlich erwähnten Juden von Babenhausen, Langstadt, Sickenhofen und Hergershausen, in: Lötzsch, Karin/Wittenberger, Georg (Hg.), Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden von Babenhausen, Langstadt, Sickenhofen und Hergershausen, Babenhausen 1988, S. 166-203.
- Lötzsch, Klaus, Der Jüdische Friedhof in Sickenhofen, in: Eisenhauer, Gerd (Red.), Jubiläumsbuch 1000 Jahre Sickenhofen, Sickenhofen 1987, S. 50-54.
- Lötzsch, Klaus/Wittenberger, Georg (Hg.), Die Juden von Babenhausen. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden von Babenhausen, Langstadt, Sickenhofen und Hergershausen, Babenhausen 1988.
- Lötzsch, Klaus/Wiesner, Frank/Wiesner, Christa: Der jüdische Friedhof in Sickenhofen, in: Lötzsch, Karin/Wittenberger, Georg (Hg.), Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden von Babenhausen, Langstadt, Sickenhofen und Hergershausen, Babenhausen 1988, S. 144-154.
- Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten (Hg.), Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914-1918. Ein Gedenkbuch, Berlin 1932.
- Ruppin, Arthur, Die Juden im Grossherzogtum Hessen, Berlin 1909.
- Wittenberger, Georg, Sickenhofen: Notizen über die Synagoge und die beiden letzten jüdischen Familien, in: Lötzsch, Karin/Wittenberger, Georg (Hg.), Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden von Babenhausen, Langstadt, Sickenhofen und Hergershausen, Babenhausen 1988, S. 107-111.
Abbildung vorhanden
✓ (in Bearbeitung)
Indizes
Siehe auch
Weitere Angebote in LAGIS (Synagogen-Standort)
Orte
- Hessische Flurnamen
- Historische Kartenwerke
- Jüdische Friedhöfe
- Historisches Ortslexikon
- Topografische Karten
Personen
Quellen und Materialien
Nachnutzung
Rechtehinweise
Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, CC BY-SA 4.0
Abbildungen: siehe Angaben beim jeweiligen Digitalisat
Zitierweise
Empfohlene Zitierweise
„Sickenhofen“, in: Synagogen in Hessen <https://lagis.hessen.de/de/orte/synagogen-in-hessen/alle-eintraege/205_sickenhofen> (aufgerufen am 27.11.2025)
Kurzform der URL für Druckwerke
https://lagis.hessen.de/resolve/de/syn/205
