Arheilgen

Bearbeitet von Wolfgang Fritzsche, überarbeitet von Daniel Ristau  
Landkreis
Darmstadt
Topografische Karten
KDR 100, TK25 1900 ff.
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Basisdaten

Juden belegt seit

1536

Lage

64291 Darmstadt, Stadtteil Arheiligen, Kleine Brückenstraße 14

Rabbinat

Darmstadt II

erhalten

nein

Jahr des Verlusts

ca. 1944

Art des Verlusts

Zerstörung

Gedenktafel vorhanden

nein

Synagogen-Gedenkbuch Hessen

Geschichte

Ein erster Hinweis auf einen in dem zu dieser Zeit zur Landgrafschaft Hessen gehörenden Dorf Arheilgen lebenden Juden stammt aus dem Jahr 1536, als der namentlich nicht Genannte 2 fl. Schirmgeld an die landgräfliche Kellerei in Darmstadt zu entrichten hatte. Es dürfte sich dabei um jenen Salomon gehandelt haben, der 1541 den Erlass der Abgaben quittierte. 1538 und 1539 entrichtete Seligmann Schutzgeld, 1541 und 1543 zudem Meyer.1 Ob es sich dabei um dauerhafte oder temporäre Aufenthalte handelte, ist nicht geklärt. Nachdem das Dorf 1567 unter die Herrschaft Hessen-Darmstadts gelangt war, wird nochmals 1571 und 1593 im Rahmen eines Geleitstreits zwischen Hessen und der Kurpfalz jeweils ein namentlich nicht genannter Jude in Arheilgen erwähnt. Erst in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges finden sich verstärkt Hinweise auf jüdische Dorfbewohner. 1634 zahlten Hayum, Abraham und Isaak aus Arheilgen Einzugsgeld.2

1696 nennen die ältesten erhaltenen Bürgermeisterrechnungen mit den Namen Löw Simon, Simon Isaak, Moses Löw, Ruben Baruch, Ruben Süßkind und Ruben Löw bereits sechs ansässige jüdische Familien.3 Bis 1776 stieg diese Zahl auf neun an. In diesem Jahr besaß Löb Simon ein Haus in der heutigen Messeler Straße (Nr. 39) und Ruben Strauß führte ein Schlachthaus in der Obergasse. Die Familie Kahn wohnte gegenüber dem Rathaus. In der heutigen Darmstädter Straße lebten Löw Strauß (Nr. 12), Simon Ruben (Nr. 18) und, neben Simon Adler, Ruben Baruch (Nr. 32). Löw Ruben hatte sein Haus in damaligen Hundsgasse 9 und auch Hayum Sanders lebte in einer Hofreite – auf diesem Anwesen wurde später das Gebäude der Dresdner Bank errichtet. Bis 1797 stieg die Zahl der jüdischen Steuerzahler auf 17 an. Allerdings war 1803 auch bei drei jüdischen Einwohnern der Vermerk „Betteljud“ angegeben.4

Ende der 1820er-Jahre erreichte die Zahl der jüdischen Einwohner mit 111 ihren höchsten Stand. In den Folgejahrzehnten sank sie deutlich auf 48 im Jahr 1880 und 24 im Jahr1910. Zugeordnet waren die Jüdinnen und Juden in Arheilgen der Darmstädter Landjudenschaft und dem Landrabbiner in Darmstadt. Ende des 19. Jahrhunderts entschieden sie sich für den Verbleib beim liberalen Rabbinat Darmstadt I. Die Leitung der jüdischen Gemeinde lag in den Händen von drei Vorstehern. Als Rechnungsführer wirkte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert über viele Jahre der bei der politischen Gemeinde angestellte Gemeinde- und Polizeidiener Ludwig Castritius. Als Vorsteher amtierten um 1870 Simon Josef Kahn und nach ihm über viele Jahre H. Adler. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren S. Wechsler, Jakob Simon und der Verleger Aron Reinhardt als Gemeindevorsteher gewählt. Um 1924 hatten diese Funktion weiterhin Reinhardt und Simon inne, neben ihnen zudem der Schuhhändler und Hausierer Leopold Karlsberg. Als Schochet wirkte Jakob Fränkel.5

Bereits kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Ende Januar 1933 sahen sich auch die wenigen noch in Arheilgen lebenden Jüdinnen und Juden Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Am 17. März wurde der Tierfutterhändler Heinrich Wechsler trotz Erkrankung mit einer Hakenkreuzfahne durch den Ort gejagt – er starb vier Tage später an einer Lungenentzündung. Während des Novemberpogroms von 1938 drang der Mob auch in die Privatwohnungen und Geschäfte der noch in Arheilgen lebenden Jüdinnen und Juden ein und randalierte. Es kam auch zu körperlichen Übergriffen. Johanna Reinhardt sprang in Panik aus einem Fenster und blieb schwer verletzt auf der Straße liegen. Wenig später erlag sie ihren Verletzungen im Krankenhaus, woraufhin sich ihr Vater Aron Reinhardt das Leben nahm. Während einigen der Verfolgten die Flucht gelang, unter anderem in die Vereinigten Staaten, wurde andere zu Opfern der Shoah.6

Seit 2009 werden in Arheilgen, das seit 1937 nach Darmstadt eingemeindet ist, Stolpersteine verlegt.

Statistik

  • 1536–1591 vereinzelte Nennungen
  • 1634 3 Schutzjuden
  • 1695 6 Familien
  • 1776 9 Familien
  • 1797 17 Familien
  • 1802 16 Familien
  • 1829 111 Personen
  • 1861 98 Personen
  • 1880 48 Personen
  • 1907 31 Personen
  • 1925 ca. 20 Personen
  • 1937 14 Personen

Quellenangabe Statistik

Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 461.

Betsaal / Synagoge

Erster Betraum von 1799, Kleine Brückenstraße 14

1799 richteten die Jüdinnen und Juden Arheilgens in der Kleinen Hundsgasse (heute: Kleine Brückenstraße 14) eine erste Synagoge ein. Die Einweihung wurde überschwänglich in einem Gasthaus gefeiert, wobei die Tatsache, dass auch getanzt wurde, noch ein Nachspiel hatte.7

Die Synagoge von 1847, Kleine Brückenstraße 14

1847 wurde das Gebäude, in dem sich der Betraum befand abgerissen und – nach Arthur Ruppin 1853 – an gleicher Stelle ein Neubau errichtet.8

Über den Bau selbst liegen nur sehr wenige Informationen vor. Das Gebäude maß 8,85 m mal 6,10 m im Grundriss. Die Gebäudelängsachse war nach Nordosten ausgerichtet. Zur Straße vorgelagert stand ein kleines Haus, in dem unter anderem der Religionsunterricht erteilt wurde. Die freistehende Synagoge verfügte über ein Satteldach. Ein Vorbau am südwestlichen Giebel bildete den Eingangsbereich. An der gegenüberliegenden Giebelseite befand sich eine Apsis, in der der Thoraschrein eingerichtet war. Die Frauenemporen lagen an den beiden Längsseiten des Gebäudes. Sie waren über zwei Treppenhäuser westlich und östlich der Apsis zugänglich, über die die Frauen getrennt von den Männern den Betsaal betraten. Belichtet wurde der Betsaal über jeweils drei hohe Rundbogenfenster in den Längsfassaden und zwei in der südwestlichen Giebelseite. Im Betsaal, der 5,20 m hoch war, stand fast mittig, leicht zum Thoraschrein hin verschoben der Almemor. Auf ihm soll sich auch eine Menora befunden haben.9

Eine umfassende Sanierung der Synagoge fand 1903 statt, in deren Verlauf auch ein neuer Außenputz aufgebracht wurde. Finanzieren konnte die jüdische Gemeinde dies nur aufgrund einer Spende von 500 RM.10 Gottesdienste fanden zu dieser Zeit nur noch an den jüdischen Feiertagen statt.11 Für diese verpflichtete der Gemeindevorstand auswärtige Vorsänger, so unter anderem F. Blumenstein aus Darmstadt und ab 1897/1898 dann Rudolf Mayer aus der jüdischen Gemeinde Seeheim. 1912 beschloss die jüdische Gemeinde abermals eine Renovierung. Dazu fragte sie beim Rabbinat in Darmstadt wegen eines Zuschusses an. Zu dieser Zeit hatte die Gemeinde genau zehn Mitglieder, die älter als 13 Jahre alt waren. Ein Minjan konnte also, wenn auch knapp, erreicht werden. Da Gottesdienste aber nur noch am jüdischen Neujahrs- und am Versöhnungstag stattfand, diese sonst aber nicht einmal mehr zu den anderen jüdischen Festtagen gesichert waren, lehnte das Rabbinat die Bitte ab, unterstützte aber einen Spendenaufruf.12

Das Gebäude wurde während des Novemberpogroms 1938 nicht in Mitleidenschaft gezogen, weil es sich zu dieser Zeit bereits in christlichem Besitz befand. Allerdings wurde es 1944 durch Brandstiftung beschädigt und später abgerissen.

Weitere Einrichtungen

Bereits 1843 erwähnte der Rabbiner Benjamin-Hirsch Auerbach in einer Zusammenstellung einen Krankenverpflegungsverein der jüdischen Gemeinde Arheilgen.13 Mitte der 1870er-Jahre bestanden zwei jüdische Krankenvereine, wohl einer für Männer und einer für Frauen, im Ort.14

Mikwe

Es soll auch eine Mikwe in Arheilgen gegeben haben, deren Standort allerdings nicht bekannt ist.15

Schule

In der 1799 eingerichteten Synagoge befand sich auch ein Schulraum. Auch Mitte der 1870er-Jahre gab es in Arheilgen noch eine Religionsschule, in der 12 Kinder von einem angestellten Religionslehrer unterrichtet wurden. Diese befand sich in einem eingeschossigen Gebäude, das im Synagogengrundstück Kleine Brückenstraße 14 an der Straße lag. Dort wohnte auch der Religionslehrer. Ab Ende des 19. Jahrhunderts waren in dem Haus zwei Wohnungen an Nichtjuden vermietet.16

Hinweise auf einen bei der jüdischen Gemeinde angestellten Religionslehrer finden sich bereits für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1839 war der spätere Journalist Josef Oppenheim in Arheilgen als Sohn eines jüdischen Lehrers geboren worden. 1873 wurde auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau Isaac (Jitzhak) Oppenheimer beigesetzt, der als Lehrer, Vorbeter, Schächter, Mohel und Thorasachverständiger in Arheilgen gelebt hatte.17 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg erhielten die jüdischen Kinder ihren Religionsunterricht in Darmstadt. 1924 unterrichtete die vier schulpflichtigen Kinder der Darmstädter Lehrer Elias Hauser in Religion.18

Friedhof

Zwar findet sich in Bürgermeisterrechnungen gelegentlich die Bezeichnung „Judenkirchhof“ für Arheilgen. Das damit bezeichnete Areal befand sich aber im Besitz der Ortsgemeinde und wurde verpachtet. Worauf sich dieser Name bezieht, ist unklar, jedoch wurden im Dorf nach bisherigem Wissensstand niemals Jüdinnen und Juden beigesetzt.19 Die jüdischen Verstorbenen wurden vielmehr auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau bestattet.

Nachweise

Fußnoten

  1. HStAD, O 61 Müller, Nr. 2; Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 457.
  2. HStAD, O 61 Müller, Nr. 5; Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 457.
  3. Andres, 1978, Alt-Arheilgen, S. 208.
  4. Andres, 1978, Alt-Arheilgen, S. 208, Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 457.
  5. Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes, Jg. 2, 1887, S. 26; Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege, Jg. 21, 1913, S. 185; 1924/1925, S. 131; Arheilgen, in: Alemannia Judaica, https://www.alemannia-judaica.de/arheilgen_synagoge.htm (Stand: 31.10.2025).
  6. Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 461
  7. Andres, 1978, Alt-Arheilgen, S. 210, Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 457.
  8. Andres, 1978, Alt-Arheilgen, S. 210, Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 457; Ruppin, 1909, Juden, S. 71.
  9. Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 457-459.
  10. Frankfurter Israelitisches Familienblatt, Nr. 45, 11.9.1903, zitiert nach Arheilgen, in: Alemannia Judaica, http://www.alemannia-judaica.de/arheilgen_synagoge.htm (Stand: 3.11.2025).
  11. Ruppin, 1909, Juden, S. 82.
  12. HStAD Q 2, Nr. 37; Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 460.
  13. Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 459.
  14. Engelbert, 1875, Statistik, S. 52-53.
  15. Andres, 1978, Alt-Arheilgen, S. 210.
  16. Engelbert, 1875, Statistik, S. 52-53; Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 458-459.
  17. Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 459.
  18. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege, Jg. 21, 1913, S. 185; 1924/1925, S. 131.
  19. Treue/Lenartowicz, 2025, Arheilgen, S. 459.

Weblinks

Quellen

Literatur

Nachnutzung

Rechtehinweise

Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, CC BY-SA 4.0
Abbildungen: siehe Angaben beim jeweiligen Digitalisat

Zitierweise

Empfohlene Zitierweise

„Arheilgen“, in: Synagogen in Hessen <https://lagis.hessen.de/de/orte/synagogen-in-hessen/alle-eintraege/112_arheilgen> (aufgerufen am 25.11.2025)

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